Hebamme von Sylt
dann einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu, sorgsam darauf bedacht, nicht in die Nähe seiner Hände zu kommen. Nicht noch einmal wollte er Gefahr laufen, von ihnen gepackt und zu Boden gerissen zu werden, wie es in der vergangenen Nacht beinahe geschehen wäre. Erst als er sicher war, dass der Mann nicht bei Bewusstsein war, beugte er sich über ihn. Er lebte. Sein Atem ging flach, aber regelmäßig. Dann sickerte plötzlich Blut aus seinem rechten Mundwinkel, und Marinus erhob sich wieder. Was sollte er tun?
Die Antwort auf diese Frage ergab sich von selbst, denn in der Ferne tauchten zwei Reiter auf. Dr. Pollacsek mit seinem Hausdiener Michelsen! Marinus überlegte nicht lange. Mit wenigen Schritten war er wieder in die Dünen hinaufgestiegen, geduckt, so dass er von der Wasserkante aus nicht gesehen werden konnte. Zum Glück blickte Dr. Pollacsek auf das Meer hinaus, zeigte auf ein Boot, das weit draußen schwankte, und erklärte Michelsen etwas, das der nickend bestätigte. Währenddessen huschte Marinus weiter. Und als Pollacseksich vom Meer abwandte, warf er sich auf den Bauch und robbte so weit, bis er sich im hohen Dünengras sicherer fühlen konnte.
Er warf sich auf den Rücken und ruhte sich ein paar Augenblicke aus. Als er sich wieder aufrichtete, stellte er fest, dass er den bewusstlosen Mann von hier aus nicht sehen konnte. Nur die Köpfe der beiden Reiter waren zu erkennen. Und dann hörte er einen Ruf! Anscheinend hatte Dr. Pollacsek den bewusstlosen Mann entdeckt. Marinus ließ sich zurücksinken und starrte in den Himmel. Wer mochte einen Mörder angeheuert haben, damit er Geesche tötete? Wem war daran gelegen, dass sie nicht mehr lebte? Er hatte diesen Mann vor wenigen Stunden im Garten seines Bruders gesehen. Und Arndt war der Einzige, der Angst davor haben musste, dass Geesche irgendwann doch die Wahrheit sagte. Wenn sie die Gefangenschaft nicht mehr aushielt, wenn ihr die Strafe, die ihr drohte, so schrecklich erschien, dass alles andere besser war.
Marinus merkte, dass seine Augen feucht wurden. Arndt! Sein Bruder! Mit einer heftigen Bewegung wischte er sich den Blick frei. Dann sprang er auf und lief geduckt davon.
XIX.
Dr. Pollacsek kniete neben dem Mann und fühlte seinen Puls. »Er lebt«, sagte er zu seinem Hausdiener. »Wir müssen Hilfe holen.«
Michelsen stand da und starrte auf den Mann hinab. Es sah so aus, als hätte er die Worte seines Herrn nicht gehört. »Das ist Hauke Bendix«, sagte er. »Okkos Bruder.«
»Der zu den Strandräubern gegangen ist?« Dr. Pollacsek ließ das Handgelenk los, als wollte er einem solchen Kerl den Puls nicht messen.
Michelsen nickte. »Okko hält trotzdem noch zu ihm. Undmanchmal lässt Hauke sich in Westerland blicken, wenn er seinen Bruder besucht.«
»Im Haus des Grafen?«, fragte Dr. Pollacsek ungläubig.
Michelsen nickte erneut. »Dort weiß niemand, dass Hauke zu den Strandräubern gehört.«
Dr. Pollacsek erhob sich stöhnend. »Wir müssen ihm trotzdem helfen. Reiten Sie los, Michelsen, und holen Sie Dr. Nissen. Am besten, Sie setzen ihn auf Ihr Pferd, dann wird es schnell gehen.«
Michelsen betrachtete ihn zweifelnd. »Sollen wir es nicht besser umgekehrt machen? Was ist, wenn der Kerl aufwacht? Oder … wenn er stirbt? Kann Ihr Magen das vertragen?«
Dr. Pollacsek überlegte kurz, anscheinend war ihm diese Gefahr noch nicht in den Sinn gekommen. Aber dann winkte er mit großer Geste ab. »Halten Sie mich etwa für eine Memme? Nein, nein, wir machen es so, wie ich gesagt habe. Sie reiten los und kommen mit Dr. Nissen zurück. Ich bleibe so lange hier.«
Michelsen schien immer noch nicht überzeugt zu sein. »Was ist, wenn die Strandräuber kommen?«
»Warum sollten sie das tun? Die werden froh sein, wenn sich jemand um ihren Spießgesellen kümmert, und sich schön ruhig verhalten.«
Das schien Michelsen auch zu glauben. Deswegen schwang er sich aufs Pferd und ritt los.
Dr. Pollacsek überlegte, ob er sich neben den Verletzten setzen sollte, was er sicherlich getan hätte, wenn es sich um einen rechtschaffenen Sylter Bürger gehandelt hätte. In diesem Fall aber entschied er sich dafür, zur Wasserkante zu gehen und den Blick auf das Meer zu genießen, der ihn stets beruhigte. Eine schöne Farbe hatte das Meer an diesem Tag, ein tiefes, dunkles Blau, das sich nur unterhalb der Schaumkronen gelegentlich in ein helles Grün verwandelte.
Ängstlich horchte er in sich hinein. Gab es in der Magengegend einen Schmerz? Einen
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