Hebamme von Sylt
Hochzeit geschenkt. Sie hatte es von ihrer Mutter bekommen und diese wiederum von ihrer. Es ist schon lange im Familienbesitz und sehr kostbar.«
»Ich weiß«, flüsterte Katerina. »Deswegen war ich ja so erschrocken, als ich es nicht fand.«
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Es war mir peinlich«, flüsterte Katerina noch leiser. »Dieses kostbare Schmuckstück! Und ich habe nicht gut genug darauf achtgegeben! Außerdem habe ich gehofft, es würde sich wiederfinden.« Sie wandte sich von ihrem Mann ab und dem Inselvogt zu. »Es ist mir also tatsächlich gestohlen worden? Das hatte ich insgeheim befürchtet. Aber ich habe auch darauf vertraut, dass niemand dieses Collier zu Geld macht, ohne aufzufallen.« Sie griff in die Kiste und lächelte den Inselvogt liebenswürdig an. »Danke, dass Sie es mir zurückgebracht haben.«
Marinus’ Erstarrung löste sich, er trat ein, zwei Schritte näher. Nun war er es, der seinem Bruder mit den Augen eine Frage stellte. Aber auch er erhielt keine Antwort. Hatte Arndt den Mann, der Geesche ermorden sollte, mit dem alten Familienschmuck bezahlt? Hatte der Kerl so viel Geld verlangt, dass Arndt es nicht aufbringen konnte? So wichtig war ihm Geesches Tod und Katerinas Glück, dass er sich von diesem Collier trennte? Marinus spürte, dass die Enttäuschung darüber, wiesehr er sich in seinem Bruder getäuscht hatte, noch schwerer wog, als er bisher gedacht hatte.
Im nächsten Augenblick erhielt er die Bestätigung. Dr. Pollacsek berichtete, unter welchen Umständen das Collier zutage gekommen war. »Hauke Bendix hat vermutlich heimlich seinen Bruder besucht. Und bei dieser Gelegenheit ist er in Ihr Haus eingedrungen und hat das Collier gestohlen. Okko scheint damit nichts zu tun haben. Er hat uns die Kiste gebracht, als er vom Tod seines Bruders erfuhr.«
Marinus erschrak. Die Frage schoss geradezu aus ihm heraus: »Er ist tot?«
Anscheinend hatte man seine Anwesenheit zwischenzeitig vergessen. Alle Köpfe fuhren zu ihm herum, erstaunt wurde er angesehen.
»Der Kerl wurde tot am Strand gefunden«, gab der Inselvogt zurück.
Und Dr. Pollacsek ergänzte: »Ich habe ihn zufällig entdeckt. Da lebte er noch. Aber als Dr. Nissen kam, war er tot.«
Marinus drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort das Wohnzimmer, das Haus, das Grundstück seines Bruders. Weg! Nur weg! Er war für den Tod eines Menschen verantwortlich. Dieser Satz hämmerte in seinem Kopf. Immer wieder, immer lauter. Erst auf dem Weg blieb er stehen, sah nach Norden und nach Süden, als wüsste er nicht, wohin er gehen sollte. Was war aus diesem Sommer geworden, in dem er zum glücklichsten Mann der Insel werden wollte? Sein Bruder hatte schwere Schuld auf sich geladen, hatte sogar einen Mörder bezahlt, und er selbst war schuld am Tod eines Mannes. Zwar hatte ihn dieser Mann angegriffen, und alles, was Marinus getan hatte, war Notwehr gewesen, trotzdem fiel es ihm schwer, diesen Gedanken zu ertragen. In dieser Welt, die Stück für Stück um ihn herum zusammengebrochen war, konnte ihm nur Geesches Liebe helfen. Wo war sie? Wie konnte er sie finden?
Marinus wandte sich gen Norden, ohne dass von einer wirklichenEntscheidung die Rede sein konnte. Er lief einfach los. Die Sonne zu seiner Linken, die Dünen, die täppische sommerliche Brandung. Er wollte zum nächsten Strandübergang, sich am Meer niederlassen, wie Geesche es immer tat, wenn sie etwas zu verarbeiten hatte, wenn sie sich etwas wünschte, etwas herbeisehnte. Dort würde er so fest und innig an sie denken, ehe er wusste, was er zu tun hatte.
Geesche duckte sich hinter einen Steinwall, bis die Frau eines Fischers, die auf dem Feld einer reichen Bäuerin gearbeitet hatte, vorbeigegangen war. Sie hörte, wie sich eine Tür öffnete und schloss, dann waren keine Schritte mehr zu hören. Geesche war froh, dass sich die Wärme des Tages in einem kühlen Wind auflöste, der sich direkt nach Sonnenuntergang erhoben hatte. Die Sylter, sowieso nicht an ein Leben im Freien gewöhnt, hatten sich in ihre Häuser und Hütten zurückgezogen, waren mit der Zubereitung des Abendessen beschäftigt oder mit dem Flicken von Netzen, eine Arbeit, für die ein Fischer Tageslicht oder eine gute Petroleumlampe brauchte.
Geduckt lief sie weiter und sah sich dabei nach allen Seiten um, damit sie jede Gefahr sofort erkannte und reagieren konnte. Endlich kam Fredas Kate in Sicht. Hinter ihrem Fenster glomm ein schwaches Licht, es war also jemand zu Hause.
Weitere Kostenlose Bücher