Hebamme von Sylt
Hose, deren Zustand er anscheinend verdecken wollte, indem er seinen Hut abnahm und schützend vor sich hielt. Da er damit jedoch verriet, dass er sich für diesen Anlass nicht einmal frisiert hatte, machte er die Mängel seines Erscheinungsbildes nicht wett. Er sah aus, als wäre er nach Hause gehastet, und hätte mit einem Blick auf die Uhr nur das getan, was unbedingt nötig und angesichts seiner Zeitnot möglich war.
Seine Worte jedoch waren wohlgesetzt und lenkten schnell von seinem unzulänglichen Äußeren ab. Mit verbindlichen Worten dankte er der Comtesse für ihren wunderbaren Vortrag, der Königin für ihre großzügige Spende und der Sylter Bevölkerung für ihre Anteilnahme. Und als er verkündete, dass der Friedhof der Heimatlosen in diesen Minuten einen neuen Namen erhalten hatte, flogen ihm die Herzen aller zu, auch derer, die wie Gräfin Katerina noch immer die Stirn runzelten angesichts seiner unvollständigen Kleidung. »Gemäß der letzten Zeile des Verses wollen wir diesen Ort zukünftig nicht mehr Friedhof, sondern ›Heimat der Heimatlosen‹ nennen!«
In diesem Moment hatte sich die Miene der Gräfin verändert. Ihr Blick hatte nicht mehr dem Kurdirektor, sondern ihrer Tochter gegolten. Lag er sonst oft mit mütterlicher Strenge auf Elisa und mochte sie auch bemerkt haben, dass ihr Mieder nicht mehr so eng geschnürt war, wie es unter ihren Blicken geschehen war, so hatten ihre Augen jetzt vollends den leichten Tadel verloren, der sich dort so häufig fand. Voller Liebe ruhten sie auf Elisa. So voller Liebe, dass Hanna ein weiteres Malvon Neid und Eifersucht überwältigt wurde. Auch sie wurde von ihrer Mutter geliebt, aber nie war sie derart stolz von ihr betrachtet worden. Hanna Boyken wurde zwar trotz allem geliebt, trotz ihrer Behinderung, trotz ihres unscheinbaren Äußeren, trotz ihrer Fehler, aber Elisa von Zederlitz wurde geliebt, weil sie so war, wie sie sein sollte. Hanna Boyken würde niemals aus diesem Grunde geliebt werden.
Am Ende des Weges bewegte sich in diesem Augenblick etwas und riss Hanna aus ihren Gedanken. Sie richtete sich ein wenig auf, dann war sie sicher: Ebbo und Elisa kamen auf das Haus zu. Mühsam zog sie sich an dem Steinwall in die Höhe, fiel auf die Knie, stemmte sich auf den Wall, um auf die Füße zu kommen. Ein letzter Blick zu Dr. Nissens Fenster, hinter dem es immer noch dunkel war, und sie humpelte den beiden entgegen. Ihre Holzschuhe hatte sie stehen lassen. Kein Geräusch sollte ihre Schritte verraten.
Ihre Hoffnung, dass alles wieder so werden könnte wie vor der Entdeckung in den Dünen, vor der Verlobung, fiel in sich zusammen, während sie Elisa und Ebbo entgegensah. Die Leichtigkeit war verloren gegangen. Ebbo ging neben Elisa her, während er sich sonst ständig ihrer Nähe vergewissert, sie berührt, sich ihr zugewandt hatte. Obwohl sie sein Gesicht nicht erkennen konnte, war sie sicher, dass er nicht lächelte. Und Elisa schien eine andere geworden zu sein. Nicht nur wegen des schweren dunklen Umhangs, den sie trug und der ihre Gestalt so gründlich verhüllte, dass niemand auf die Idee kommen konnte, dass darunter die Comtesse von Zederlitz steckte, die sich anschickte, einen Fehler zu begehen, der sie ihre gesellschaftliche Stellung kosten konnte. Wer nur flüchtig hinsah, konnte genauso gut annehmen, Ebbo begleite seine Mutter, die schnell fror, weil sie zu viel arbeitete und sich nie richtig satt essen konnte, und sich deshalb auch in einer Sommernacht einen Umhang über die Schultern legte. Elisa ging tatsächlich so gebeugt wie eine Frau, die eine Last zu tragen hatte. War es derAbschied von Ebbo? Diese letzten Stunden, die im Haus der Hebamme zelebriert werden sollten? Hanna sah ein, dass sie nie wieder den Versuch zu machen brauchte, Elisa und Ebbo zusammenzuführen. In Zukunft musste es etwas anderes geben, mit dem sie sich die Freundschaft der Comtesse sicherte.
Hanna humpelte auf die beiden zu. »Ihr könnt ganz unbesorgt sein«, flüsterte sie, als Ebbo und Elisa auf Hörweite herangekommen waren. »Dr. Nissen schläft.«
»Und wie kommen wir ins Haus?«, fragte Ebbo.
»Das Fenster der Wohnstube ist nur angelehnt. Dort könnt ihr einsteigen. Als Dr. Nissen vom Abendessen zurück war, bin ich zu ihm gegangen, um ihm einen Tee für die Nacht zu kochen. Er war sehr erfreut darüber. Bei dieser Gelegenheit habe ich das Fenster geöffnet und die Tür zur Diele verschlossen. Sollte er euch bemerken, habt ihr auf jeden Fall Zeit
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