Hebamme von Sylt
Was sie selbst wahrgenommen hatte, konnte auch der andere spüren. Wenn er ebenfalls ahnte, dass er nicht allein war, befand sie sich in großer Gefahr. Wer war der Mensch, der auf ihr Haus zuschlich? Ein Arbeiter der Inselbahn? Dann war die Gefahr sehr groß. Einer der Männer, von denen Freda gesprochen hatte? Wenn sie den Bütteln des Inselvogts in die Hände fiel, war sie ebenfalls verloren. Einfach umdrehen und fliehen? Nein, dazu war ihreSehnsucht zu groß. Und dann war da noch ihre Anspannung, die gewaltiger war als die Angst. Sie wollte wissen, wer sich anmaßte, in ihr Leben einzudringen.
Ihr wurde schnell klar, dass sie selbst nicht bemerkt worden war. Ihr Gespür hatte sie gewarnt, aber vermutlich war es zurzeit besonders ausgeprägt, weil sie sich nirgendwo sicher bewegen konnte. Der Mann, der sich kurz darauf für einen winzigen Augenblick vor dem Nachthimmel zu erkennen gab, der heller war als seine Gestalt, verhielt sich sorgloser. Anscheinend fühlte er sich in der Nacht geborgen. Als er sich duckte, konnte sie nur noch ahnen, wohin er sich bewegte. Sie folgte dieser Ahnung und bewegte sich mit ihm. Immer weiter auf ihr Haus zu. Und schon, als sie seine Silhouette erkennen konnte, meldete sich erneut ihr feines Gespür. Sie glaubte plötzlich, dass jemand in ihrem Haus war. Nicht an Leonard Nissen dachte sie, nein! Der Frieden ihres Hauses wurde gestört. Von wem?
Die Nacht hatte keine Farben. Die Natur hatte ihr Grün verloren, Geesches Haus sein Weiß, die Rosen auf dem Wall ihr Rot. Es gab nur Nachtschwarzes und das, was bei Tag so hell und farbig war, dass es bei Nacht seinen Schimmer nicht ganz verlieren konnte.
Hanna duckte sich so tief wie möglich hinter den Wall, der Geesches Haus umgab. Der Weg gehörte zu dem, was von der Nacht nicht verschluckt worden war, die getünchten Wände des Hauses ebenfalls, und wenn der Wind das Gras auffächerte, entstand eine Bewegung, die auch ein wenig Helligkeit weckte. Bis zu diesem Augenblick hatte Hanna angestrengt gelauscht, hätte am liebsten die Augen geschlossen, um den Ohren noch mehr Kraft zu geben, dann war sie sicher gewesen, dass etwas diese Nacht durchschnitt. Wenn sie auch voller Geräusche war wie alle Nächte auf Sylt – ein neues Geräusch war hinzugekommen, das nicht zur Nacht gehörte. Ein Knirschen auf dem Sandweg,ein Huschen in den Gräsern, ein kaum hörbares Saugen direkt über dem Boden, ein Atmen, das sich anhörte wie eine seufzende Brise, aber nicht sanft aushauchte, sondern sich verriet, indem er angehalten wurde, als hätte sich jemand erschrocken.
Und dann hörte sie nicht nur, sie konnte auch sehen: eine schattenhafte Gestalt, die sich geduckt mit großen, federnden Schritten vorwärtsbewegte. Vor der hellen Hauswand wurde daraus eine Gestalt mit Umrissen und Nuancen, mit Schärfen und verschwommenen Linien. Ein Mann! Er sah sich um, verlor allmählich das Angespannte, Geduckte, das Lauernde. Er hob den Kopf und schien seine Angst, entdeckt zu werden, verloren zu haben. Und nun sah sie, dass er einen Hut trug. Einen schwarzen Hut. Nicht einen dieser Hütte, die die Sommerfrischler am Strand trugen und lüpften, wenn sie einen Bekannten trafen. Nein, dieser Hut war anders. Ein, zwei winzige Augenblicke zeigte er sich scharf umrissen vor dem Nachthimmel, und Hanna erkannte, dass es ein Hut mit einer weichen Krempe war, die dem Mann in die Stirn und in den Nacken fiel. Und dann sah sie noch etwas: An dem Hut steckte eine Feder. Und auch sie war schwarz.
Obwohl Hanna wusste, dass die Nacht sich die Farben einverleibte, war sie doch sicher, dass der weite Umhang des Mannes ebenfalls schwarz war. Nicht von dunkler Farbe, sondern tiefschwarz. Auch seine Haare waren nicht dunkel, sondern schwarz, ebenso wie der Bart, der die untere Gesichtshälfte bedeckte. Sie glaubte sogar zu erkennen, dass auch seine Augen schwarz waren. Hatte sie zunächst gedacht, ein Arbeiter der Inselbahn wolle sich an Geesches Hab und Gut schadlos halten, so wusste sie nun, dass sie hier niemanden vor sich hatte, der auf Sylt zu Hause war. Nein, diesen Mann kannte Hanna nicht. Ein Strandräuber? Ja, so musste es sein. Strandräuber hatten kein Zuhause, sie lebten irgendwo in den Dünen und kleideten sich oft absonderlich. Sie trugen das, was sie angespülten Strandleichen abgenommen hatten, die aus anderenLändern kamen, und manche zeigten es sogar voller Stolz, wenn sie nach Westerland kamen, und weideten sich dann an den konsternierten Gesichtern
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