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Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Pauly
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genug, durch das Fenster zu fliehen.« Hanna wies zum Haus, obwohl das Fenster der Wohnstube auf der gegenüberliegenden Seite lag, nach Süden ausgerichtet. »Wenn ich etwas sehe, klopfe ich ans Fenster.«
    Elisa nahm zum ersten Mal den Blick vom Boden und sah Hanna eindringlich an. »Diesmal wirst du deinen Platz nicht verlassen?«
    Hanna hob die Finger. »Ich schwöre es.«
    »Und du wirst hier bleiben? Vor dem Haus?«
    Hanna verstand, was sie sagen wollte, und wiederholte: »Ich schwöre es.«
    Mehr sprachen sie nicht. Elisa und Ebbo huschten ums Haus herum, Hanna blieb stehen, wo sie war. Sie würde ihren Schwur nicht brechen. Die Comtesse sollte wissen, dass ihre Gesellschafterin nichts tun würde, was ihr gefährlich werden könnte.
     
    Geesche bewegte sich vorsichtig die Trift hinab. Nicht auf dem Weg ging sie, sondern im Gras, auf einem Weidensaum, manchmalauch hinter einem Gebüsch her, das ein Bauer gepflanzt hatte, um die Tränke seiner Tiere vor dem Wind zu schützen. Und immer hielt sie Ausschau, drehte sich oft zurück, lauschte nach vorn und hinten, hatte ihre Augen überall. Aber zum Glück war alles ruhig. Die meisten Sylter schliefen, diejenigen, die schwer arbeiten und bei Sonnenaufgang bereits wieder aufstehen mussten, sowieso, aber auch die Sommerfrischler hatten sich zur Ruhe begeben. Westerland bot nicht viel Zerstreuung für die Großstädter, die Besseres gewöhnt waren als ein Conversationshaus, wo gelegentlich ein kleines Orchester aufspielte, dessen Stehgeiger sich nach zehn die Augen rieb, weil er fünf Stunden später in einer Backstube seine Arbeit antreten musste. Über Sylt hatte sich die Nacht gesenkt. Geesche hoffte, dass auch die Arbeiter der Inselbahn sich zur Ruhe begeben hatten oder in irgendeiner Schenke saßen, wo sie von dem Mut reden würden, den sie allesamt aufbringen wollten, um sich an der Hebamme zu rächen. Aber vielleicht würde er sich schon am frühen Morgen abgekühlt haben, wenn ihre Frauen ihnen erklärten, dass es sinnvoller war, den Versprechungen Dr. Pollacseks zu glauben, der versichert hatte, die Löhne auszuzahlen, sobald das Geld vom Festland gekommen war. Und irgendwie würde man die Zeit bis dahin schon überstehen, wenn man sich mit dünner Getreidegrütze über Wasser hielt.
    Als Geesche nach rechts in einen Weg einbog, der die Felder von zwei Bauern trennte, fühlte sie sich sicherer. Sie sehnte sich nach ihrem Zuhause, nach ihrem Bett, nach ihrem wohlgefüllten Wäscheschrank. Freda hatte recht. In ihrem Haus würde sie niemand vermuten. Sie musste nur vorsichtig sein, sehr vorsichtig. Leonard durfte sie genauso wenig bemerken wie jeder andere, der ihr Böses wollte.
    Was wollte Leonard Nissen? Dachte er immer noch an das Eheversprechen, das sie sich gegeben hatten kurz vor ihrer Verhaftung? Wünschte er sich noch, mit ihr auf Sylt zu leben? War er noch bereit, mit ihr aufs Festland zu gehen? Geesche schütteltediese Fragen ab, deren Antworten sie zu kennen glaubte. Dr. Leonard Nissen, der honorige, vermögende Arzt mit tadellosem Ruf, war kein einziges Mal zu ihr ins Gefängnis gekommen, um ihr etwas zu bringen, um sich zu vergewissern, dass es ihr gutging. Nein, er hatte sich die Hebamme von Sylt aus seinem Herzen gerissen! Aber … würde er sie deshalb auch verraten? Geesche war sich nicht sicher. Besser war es, Leonards Loyalität nicht in Versuchung zu führen.
    Am Ende der Weide hielt sie sich links und stieß schon nach wenigen hundert Metern auf den Kirchenweg, der sich nach beiden Seiten menschenleer erstreckte. Sie hielt den Kopf gesenkt, während sie zügig ausschritt, und atmete auf, als sie rechts abbiegen konnte. Sie näherte sich ihrem Haus! Nicht mehr lange, und sie würde erneut rechts abbiegen und auf ihr Haus zugehen können. Was morgen sein würde, das wollte sie sich jetzt nicht fragen. Erst schlafen! In einem weichen Alkoven, in frischen Laken …
    Doch ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen. Erschrocken blieb sie stehen und lauschte. Eine feine Gänsehaut überzog ihren Körper, ein dünner Schweißfilm legte sich darüber. Sie war nicht mehr allein! Ganz genau spürte sie es. Da waren Geräusche, die nicht durch den Wind entstanden waren und nicht durch ein Tier. Geräusche, die ein Mensch verursachte, der vorsichtig durchs Gras stieg, um seine Schritte nicht hören zu lassen. Das Rauschen der Halme war vernehmlicher, länger, rhythmischer, als der Wind oder ein Tier es erzeugen konnte.
    Geesche stand da wie angewurzelt.

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