Hebamme von Sylt
er blieb stehen, und sein Blick wanderte langsam an der Hausfront hoch.
Dr. Pollacsek trat unwillkürlich einen Schritt zurück, weil er von diesem Mann nicht gesehen werden wollte. Warum eigentlich nicht? Er vermochte es nicht zu sagen. Dieser Mann war ihm fremd, er hatte also keinen Grund, sich vor ihm zu verbergen. Gleich darauf erkannte er aber, dass es die seltsame Starre war, die ihm Angst machte. Nun lehnte er sich an die Hauswand, als wollte er länger dort stehen und das Haus beobachten. Prompt griff Julius Pollacsek sich an den Magen und verzog schmerzhaft das Gesicht.
In diesem Augenblick klopfte es! Ärgerlich lief er zur Tür. Nun hatte er durch diese Beobachtung versäumt, Dr. Nissen schon im Hausflur zu empfangen, wie es höflich gewesen wäre, wenn man jemanden begrüßte, von dem eine Gefälligkeit erwartet wurde. Heftig riss er die Tür auf, um die Unfreundlichkeit mit besonders lauter Herzlichkeit wiedergutzumachen. »Mein lieber Nissen! Wie schön, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind!«
Dr. Nissen wehrte jeden Dank ab, da es ihm selbstverständlich eine Freude war, dem Kurdirektor seine Aufwartung zu machen, und eine Ehre, ihm zu Diensten zu sein. »Sehr freundlich, dass Sie an mich denken, wenn Sie Hilfe brauchen!«
Zufrieden ließ er sich in dem Sessel nieder, der ihm angeboten wurde, und schien nichts dabei zu finden, dass Dr. Pollacsek stehen blieb. Bevor er sich erkundigte, um welchen Wunsch es ging, ließ er einfließen, dass er schon früher gekommen wäre, wenn er nicht durch einen kleinen Empfang bei der soeben eingetroffenen Königin von Rumänien aufgehalten worden wäre.
Dr. Pollacsek sah ihn verblüfft an. »Königin Elisabeth ist auf Sylt? Warum weiß ich nichts davon?«
Dr. Nissen genoss seinen Vorsprung an Informationen. »Weil sie inkognito reist. Aber anscheinend hat es sich dennoch herumgesprochen. Heye Buuß war jedenfalls zur Stelle, um sie zu begrüßen. Und er wurde daraufhin auch zum Empfang in die Villa Roth gebeten.«
Dr. Pollacsek war zufrieden. »Das reicht! Wenn der Inselvogt ihr seine Aufwartung gemacht hat, braucht der Kurdirektor nicht auch noch zu erscheinen. Jedenfalls dann nicht, wenn die Königin inkognito reist.«
Dr. Nissen grinste. »Frau Roth hatte anscheinend damit gerechnet, dass sich schnell herumspricht, wer hinter dieser Gräfin Vrancea steckt. Sie war auf einen Empfang eingestellt, zu dem die Königin wohl oder übel laden musste, als sie merkte,dass sie erwartet wurde.« Er klopfte gegen seinen Magen. »Die Aal-Häppchen waren hervorragend.«
Dr. Pollacsek fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. »Dann bin ich froh, dass ich von diesem Empfang verschont blieb.« Nun nahm er Dr. Nissen gegenüber Platz, weil die Übelkeit den Druck in seinem Magen abgelöst hatte und im Sitzen besser zu ertragen war. »Damit sind wir beim Thema, lieber Nissen.«
Dr. Nissen wurde nun sehr aufmerksam. »Es gibt ein gesundheitliches Problem?«
Dr. Pollacsek war froh, dass er so schnell auf seine Beschwerden zu sprechen kommen konnte, und dankbar, weil der Arzt ihm konzentriert zuhörte und seine Nöte augenscheinlich ernst nahm. »Seit Wochen habe ich nicht mehr auf dem Pferd gesessen. Dabei bin ich früher täglich ausgeritten.«
Als er geendet hatte, sagte Dr. Nissen nachdenklich: »Das sieht nach einer Gastritis aus. Andererseits … manchmal führen auch seelische Verstimmungen zu diesen Beschwerden. Probleme im Beruf oder in der Familie! Ängste konkreter oder eingebildeter Art …«
»Können Sie das feststellen?«, fragte Dr. Pollacsek.
Dr. Nissen lächelte. »Es gibt also seelische Verstimmungen?«
Pollacsek schüttelte den Kopf, dann überlegte er es sich anders und nickte. »Aber meine Beschwerden sind älter als dieses Problem.«
»Es könnte Ihre körperlichen Beschwerden verstärken.«
Nun entschloss sich Dr. Pollacsek, erstmals über seine Ängste zu reden, unter denen er litt, seit er zum ersten Mal festgestellt hatte, dass jemand um sein Haus schlich, seinen Garten betrat und in seine Fenster blickte. »Ich kann nicht mehr schlafen, und seit ich nicht mehr schlafen kann, verstärkt sich der Druck in meinem Magen immer mehr. Ich arbeite nun in der ersten Etage, weil ich mich hier sicherer fühle, aber meine Magenbeschwerden sind immer noch da.«
Dr. Nissen war voller Verständnis. »Haben Sie einen Verdacht,wer das sein könnte? Jemand, der Sie bedroht? Jemand, der die Absicht hat, in Ihr Haus einzudringen? Der Sie bestehlen möchte? Oder
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