Hebamme von Sylt
Husten litt und anscheinend die Gelegenheit wahrnahm, den Arzt um Rat zu fragen. Pollacsek war drauf und dran, sich an seinen Schreibtisch zu setzen, und optimistisch, diese Körperhaltung nun besser zu ertragen.
Aber er traute seiner Hoffnung noch nicht und zog es deshalb vor, es noch eine Weile bei der aufrechten Haltung zu belassen. Wieder ging er zum Fenster, um sich von dem Treiben auf der Strandstraße abzulenken und sich der Frage zu stellen, ob die seelische Verstimmung, von der Dr. Nissen gesprochen hatte, ihm tatsächlich so sehr zusetzte, dass sie ihn krank gemacht hatte. Wenn dem so war, musste er dem Arzt dankbar sein, dass er ihn auf diese Möglichkeit hingewiesen hatte. Pollacsek hätte beinahe gelacht. Wie konnte er sich von einem Krüppel bedroht fühlen? Von einem Mädchen, das neugierig war und unverschämt genug, sich in ein fremdes Leben zu schleichen?
Dr. Pollacsek dehnte seinen Oberkörper und zog die Schultern nach hinten. Im selben Moment fiel sein Blick auf den Mann, den er über Dr. Nissens Besuch vergessen hatte. Er stand noch immer an die Hauswand gelehnt da, als hätte er sich in der Zwischenzeit nicht bewegt. Und noch immer starrte er zum Haus herüber.
Dr. Pollacsek drehte sich um, damit er ihn nicht mehr sehen musste. Und augenblicklich wurden seine Magenschmerzen so heftig, dass er laut aufstöhnte.
VI.
Geesche war auf dem Weg zur Schafweide. Ihre weiße Schürze hatte sie gegen eine dunkelgraue eingetauscht, die sie immer umband, wenn Schmutzarbeit zu erledigen war. An den Füßen trug sie unempfindliche Holzschuhe. In dem Eimer, den sie mit sich führte, lag eine Schaufel zum Aufnehmen von Schafsdreck, den sogenannten Schafskütteln, die später, wenn sie getrocknet waren, zum Heizen dienten. Sie ging mit großen, kräftigen Schritten, wie es ihre Art war, ob sie es eilig hatte oder nicht, hielt sich aufrecht und trug den Kopf hoch. Eine schöne, stolze Frau!
Kurz nach Mittag war die Wolkendecke aufgerissen, hier und da stahl sich die Sonne hervor. Sie hatte an Kraft zugenommen, war endlich in der Lage, die Luft zu erwärmen und dem Wind, der in einer schwachen Brise vom Meer herüberkam, die kalten Spitzen zu nehmen. Der Sommer schien auf Sylt anzukommen. Bald würde es sich zeigen, ob der Fremdenverkehr wirklich zunahm, ob auch die beiden Fremdenzimmer, die Geesche in dem früheren Stall einrichten wollte, den Sommer über zu vermieten waren. Wenn Dr. Pollacsek recht hatte, würde die Inselbahn eine Menge verändern, und mittlerweile war Geesche geneigt, ihm zu glauben, wenn es ihr auch nicht gefiel. Nichts würde ihr je gefallen, was mit der Inselbahn zusammenhing!
Andrees hatte nicht an Dr. Pollacseks Pläne glauben können, hatte die Inselbahn gehasst und war ihr schließlich sogar zum Opfer gefallen. Und nun Marinus? Ein Mann, der die Inselbahn zu seinem Beruf gemacht hatte! War es nicht ein Verrat an Andrees, wenn sie Marinus’ Liebe erwiderte?
Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass der Eimer an ihre Knie stieß und sie schmerzhaft das Gesicht verzog. Nein, nicht ausgerechnet Marinus Rodenberg! Ein Mann, der die Inselbahn liebte und der außerdem zur Familie von Zederlitz gehörte, deren Namen sie am liebsten vergessen würde! Nein, nicht dieser Mann! Sie musste ihn sich aus dem Herzen reißen.
Sie hatte es nicht einmal fertiggebracht, der Jungfernfahrt der Inselbahn beizuwohnen, zum Conversationshaus zu gehen und den Punsch zu trinken, den Dr. Pollacsek allen reichte, die mit ihm die Eröffnung der ersten Sylter Eisenbahnlinie feiern wollten. Später aber hatte sie sich einen Platz in den Dünen gesucht, wo sie einen Blick auf die Bahntrasse hatte. Von dort konnte sie das fauchende Ungetüm sehen, das rußige Wolken in den Himmel paffte, die Schafe mit seinem Pfeifen erschreckte und die Linie des Horizonts für sich beanspruchte. Geesche Jensen hatte in diesem Augenblick beschlossen, dasssie die Inselbahn genauso hassen wollte, wie Andrees sie gehasst hatte. Und einen Mann, der für die Inselbahn arbeitete, wollte sie nicht!
Ihre Schafe standen nördlich des Wohnhauses, das der Graf auf Kaiken Daselers Grundstück hatte errichten lassen. Früher hatten Kaiken und Geesche sich beim Sammeln der Schafsküttel abgewechselt, heute begnügte sich Geesche mit einem Teil des Ertrags, weil sie nicht in der Nähe des Zauns sammeln wollte, hinter dem das Anwesen der von Zederlitz begann. Sie nahm sogar einen Umweg auf sich, um nicht den Grundstückseingang zu passieren.
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