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Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Pauly
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der Rache an Ihnen nehmen will?«
    Pollacsek erschrak. »Sie meinen, es könnte jemand sein, der mich umbringen will?«
    Dr. Nissen hob die Schultern. »Ich weiß ja nicht, ob Sie Feinde haben.«
    »Nicht, dass ich wüsste.« Pollacsek schüttelte den Kopf. »Ich habe nie jemanden gesehen. Aber ich höre die Person und spüre, dass sie da ist!« Pollacsek starrte auf seine Fußspitzen, ehe er fortfuhr: »Nur gestern habe ich jemanden gesehen. Dieses verkrüppelte Mädchen …«
    »Hanna Boyken? Wie kommen Sie darauf, dass sie es sein könnte, die bei Ihnen rumschleicht?«
    »Ich habe sie einmal dabei beobachtet, wie sie versuchte, in ein Fenster zu schauen. Und gestern kam sie am Haus vorbei. Dann plötzlich waren ihre Schritte nicht mehr zu hören … Sie wissen ja, wie ihre Schritte klingen.«
    »Sie sind unverwechselbar«, bestätigte Dr. Nissen.
    »Als ich sie nicht mehr hörte«, fuhr Pollacsek fort, »spürte ich, dass jemand ums Haus schlich. Und ich habe eine Bewegung im Garten gesehen.«
    Dr. Nissen sah nun sehr nachdenklich aus. »Zuzutrauen wäre es ihr. Sie wissen ja, ich wohne bei Geesche Jensen, wo Hannas Mutter im Haushalt hilft. Das Mädchen ist unehrlich, neugierig und dreist.«
    »Das habe ich auch schon gehört.«
    »Sie meinen, Hanna Boyken wartet auf eine Gelegenheit, bei Ihnen einzusteigen und Sie zu bestehlen?«
    Pollacsek nickte, ohne Dr. Nissen anzusehen. Er wusste plötzlich nicht mehr, was er glauben sollte. Und nun begriff er, dass er sich lächerlich machte, wenn er Angst vor einem verkrüppelten Mädchen hatte, das vielleicht dreist und neugierig war, ihm aber niemals gefährlich werden konnte. »An dasGeld, das ich im Hause habe, könnte sie sowieso nicht kommen«, machte er sich selber Mut. »Den Tresor habe ich mit voller Absicht im ersten Obergeschoss untergebracht.« Er warf einen vielsagenden Blick auf ein Ölgemälde, das eine Ansicht seiner Heimatstadt Budapest zeigte, dann klopfte er auf die Tasche seines Jacketts. Ein metallisches Geräusch war zu hören. »Die Schlüssel trage ich immer bei mir.«
    »Von Hanna Boyken droht Ihnen sicherlich keine Gefahr«, bestätigte Dr. Nissen. »Selbst wenn sie ins Haus eindringt, würden Sie ihre Schritte auf dem Holzfußboden sofort erkennen. Und sie würde nicht fliehen können. So mühsam, wie sie sich vorwärtsbewegt.«
    »Warum schleicht sie dann um mein Haus herum?«, fragte Dr. Pollacsek so wütend, als wäre es Dr. Nissen, der ihm Angst machte.
    »Vielleicht haben Sie sich getäuscht. Aber wenn sie es wirklich ist, haben Sie nichts von ihr zu befürchten. Sie ist neugierig, will sehen, wie es in Häusern zugeht, die so schön sind wie Ihres. Am besten vergessen Sie Hanna Boyken einfach.« Dr. Nissen erhob sich und bat Dr. Pollacsek, seinen Oberkörper freizumachen.
    Nach einer kurzen Untersuchung verordnete er ihm, täglich den Saft roher Kartoffeln zu trinken. »Außerdem soll Ihre Haushälterin Ihnen Haferschleim kochen. Und eine Rollkur mit Kamillentee wird Ihnen helfen. Sie trinken den lauwarmen Tee zügig aus, legen sich anschließend drei Minuten auf den Rücken, dann drei Minuten auf die linke und die rechte Seite. So kommt die gesamte Magenschleimhaut mit dem Kamillentee in Berührung und wird sich beruhigen.« Dann schrieb er dem Kurdirektor noch ein Rezept für einen Tee aus Kalmuswurzeln auf und riet ihm, schwer verdauliche Kost zu meiden. »Keine fetten Speisen, keine Hülsenfrüchte, kein Kohl und keine Zwiebeln. In einer Woche müsste es Ihnen wesentlich bessergehen, wenn Sie meine Ratschläge beherzigen.«
    Dr. Pollacsek atmete erleichtert auf. »Was für ein Glück, dass es zurzeit einen Arzt auf Sylt gibt! Ich wollte, Sie wären schon im vergangenen August hier gewesen. Da war mein Freund Theodor Storm auf Sylt zu Besuch, wegen seiner ›Sylter Novelle‹. Aber er musste bald zurückkehren, ohne sie vollendet zu haben. Seine Magenbeschwerden!« Dr. Pollacsek schluckte nervös. »Später stellte sich heraus, dass er Magenkrebs hatte.«
    Dr. Nissen beruhigte ihn. »Magenkrebs kommt zwar oft zunächst wie eine Gastritis daher, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Sie so schwer erkrankt sind.«
    Dr. Pollacsek seufzte. »Vor ein paar Tagen habe ich die Todesnachricht erhalten. Wären Sie im letzten Jahr auf Sylt gewesen, hätte Theodor es vielleicht geschafft, seine ›Sylter Novelle‹ zu vollenden. Ihm fehlte ärztlicher Beistand.«
    Auf Dr. Nissens Gesicht entstand ein kleines tiefgründiges Lächeln. »Soll ich

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