Hebamme von Sylt
nickte zu den beiden Herren, die das Rondell des Vorgartens umschritten und nun durch das Tor gingen, das ihnen der Hausdiener der Villa Roth eilfertig öffnete. Davor blieben sie eine Weile stehen, als könnten sie sich nicht entschließen, in welche Richtung sie gehen wollten.
»Wenn mein Vater sieht, dass wir bereits so viele Einkäufe erledigt haben, wird er von mir erwarten, dass ich ihn nach Hause begleite. Und was dann?«
Hanna wusste, was dann geschehen würde. Aber sie beantwortete Elisas Frage nicht, sondern nickte nur.
Der Geschäftsinhaber tauchte hinter einem Berg von Stoffballen auf. »Haben Sie etwas vergessen, Comtesse?«
Elisa sah sich hastig um. »Ich brauche … noch mehr weißes Band. Für meine Freundin …«
Der Ladenbesitzer sah Hanna fragend an, als könnte er nicht glauben, dass Elisa von der Tochter Freda Boykens sprach. Und Hanna selbst sah nicht anders aus. Anscheinend war ihr Glück zu groß, um es genießen zu können. Es machte ihr Angst und wirkte letztendlich wie ein Unglück.
Elisa konnte Hannas Angst nicht verstehen, lachte sie an, um sie zum Mitlachen zu zwingen … Da sah sie in Hannas Rücken einen Mann in einem weiten schwarzen Mantel. Er löste sich aus dem Schatten einer Droschke, als hätte er sich dort verborgen,und wich schnell wieder dahinter zurück, als er Gefahr lief, von Graf Arndt oder Dr. Nissen gesehen zu werden. Die beiden Herren schritten langsam, ins Gespräch vertieft, an der Droschke vorbei. Kurze Zeit später trat der Mann ins Licht und folgte ihnen. Dabei war er auf einen Abstand bedacht, mit dem er ihnen nicht auffiel.
Elisa schob Hanna zur Seite, ging zum Schaufenster des Ladens und sah ihrem Vater nach. Nun blieb er stehen, um sich von Dr. Nissen zu verabschieden, und Elisa beobachtete, dass der Mann um eine Hausecke verschwand, wo er weder von ihrem Vater noch von Dr. Nissen gesehen werden konnte. Kein Zweifel, er beobachtete die beiden, wollte aber von ihnen nicht gesehen werden. Was hatte ihr Vater mit diesem Mann zu schaffen?
Dr. Pollacsek stand am Fenster und blickte auf die Strandstraße hinaus, als wollte er Marinus Rodenberg nachsehen, der ihn soeben verlassen hatte. Ein fähiger Mann, der Halbbruder des Grafen von Zederlitz! Seine Meinung zu einem Problem, das Pollacsek unlösbar erschienen war, hatte ihn tatsächlich weitergebracht. Trotzdem schaffte er es nicht, Rodenbergs Vorschläge sofort in die Tat umzusetzen. Früher hätte er es so gemacht. Früher, als er noch keine Magenschmerzen hatte. Neuerdings aber verbrachte er einen großen Teil des Tages in aufrechter Haltung, weil das Magendrücken unerträglich wurde, wenn er am Schreibtisch oder am Zeichenbrett saß. Am liebsten stand er am Fenster und sah hinaus, oder er ging auf und ab, was er sich aber meistens verbot, weil die Holzdielen im Hause so laut knarrten, dass seinen Angestellten nicht verborgen geblieben wäre, wie wenig Zeit er mit den Plänen für die Erweiterung der Inselbahnstrecke verbrachte, die ihm eigentlich so wichtig war.
Pollacsek war erleichtert, als er Dr. Leonard Nissen erblickte, der sich auf der anderen Straßenseite von Graf Arndtverabschiedete und nun auf sein Haus zukam. Vielleicht hatte der Arzt ein Mittel, das ihn von seinen Beschwerden befreite? Pollacsek war mittlerweile sogar bereit, sich nach Hamburg in die Klinik zu begeben, wenn Nissen ihm dazu raten würde. Bevor er sich jedoch zu diesem schweren Schritt entschloss, wollte er es erst einmal auf dem Wege der Gefälligkeiten versuchen. Wenn Dr. Nissen Entgegenkommen zeigte, würde sich bald für Dr. Pollacsek eine Gelegenheit ergeben, sich erkenntlich zu zeigen. Das war ein Weg, der in beiden Richtungen leicht zu beschreiten war, für Julius Pollacsek viel leichter als die Wege, auf denen Verträge geschlossen und Rechnungen geschrieben wurden.
Er wollte sich gerade vom Fenster abwenden, um Dr. Nissen entgegenzugehen, da sah er den Mann, der hinter einer Hausecke auftauchte. Er warf Graf Arndt einen langen Blick hinterher und schaute dann zur Tür von Dr. Pollacseks Haus, in der Dr. Nissen vermutlich gerade verschwand. Es war das Dunkle an diesem Mann, das Dr. Pollacsek aufmerken ließ. Schwarz die Haare, schwarz der weite Mantel, der ihn vom Kragen bis zu den Schuhen verhüllte, finster sein Blick, der aus so dunklen Augen kam, dass Pollacsek trotz der Entfernung sicher war, dass sie ebenfalls schwarz waren. Wenn der Mann weitergegangen wäre, hätte er ihn vermutlich bald vergessen, aber
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