Hebamme von Sylt
war. Sie griff in die Lade und holte das Päckchen hervor, in dem die Marzipanherzen lagen, die Dr. Nissen ihr geschenkt hatte. Sie sah sofort, dass das Päckchen geöffnet und nicht sorgfältig wieder verschlossen worden war. Drei Marzipanherzen waren es gewesen, nun lagen in dem Päckchen nur noch zwei. Und auf denen fehlten die kunstvollen Rosen und die Schokoladentupfer.
Hanna hatte also in eine neue Dimension gewechselt. Es reichte ihr nicht mehr, in Geesches Leben einzudringen, nun fing sie an, es zu vereinnahmen. Hanna ahnte vermutlich schon lange, dass Geesche wehrlos war. Jetzt wusste sie es.
Freda stellte ihren Kindern die Getreidegrütze hin und goss ihnen von dem Wasser ein, das sie kurz zuvor vom Brunnen geholt hatte. Schweigend lehnte sie sich an die Feuerstelle, nippte an ihrem eigenen Wasser und betrachtete die beiden, die ebenso schweigend ihr Frühstück löffelten. Schon lange hoffte sie darauf, dass irgendwann das Geld für einen dritten Stuhl da sein würde, doch bisher hatte das bisschen, das sie verdiente, nur fürs tägliche Auskommen gereicht. Aber immerhin! Einen Stuhl brauchte sie nicht unbedingt, solange es die Herdstelle gab, an die sie sich lehnen konnte, oder den Alkoven, dessen Bettkante wie eine Bank zu benutzen war. Solange sie nicht hungern mussten, wollte sie nicht klagen. Und das würde Geesche zu verhindern wissen, der Freda vertraute, die ihr immer eine Freundin gewesen war. Geesche würde nicht zulassen, dass sie Hunger litten, sie würde auch dann zu ihnen stehen, wenn Graf von Zederlitz zu ihrem Unglück werden sollte.
»Warum beschenkt dich die Comtesse so großzügig?«, fragte sie Hanna, die nach dem Aufstehen viel Zeit gebraucht hatte, um das weiße Band in ihr Haar zu flechten.
Hanna sah so zufrieden aus, dass von Freda ein Teil ihrer Sorgen wieder abfiel. »Sie hat mich ihre Freundin genannt.«
Schon waren sämtliche Sorgen zurück! »Ihre Freundin?« Freda trat auf den Tisch zu, als wollte sie Hanna ins Gesicht sehen können, um sie dann der Lüge zu überführen. »Du kannst nicht die Freundin einer Comtesse sein!«
»Sie hat es sogar zu dem Stoffhändler gesagt«, beharrte Hanna.
Freda verstand die Welt nicht mehr. Dieses weiße Band hatte, als Hanna am Abend vorher damit nach Hause gekommen war, Angst in ihr geweckt, aber auch eine kleine Hoffnung. Beides jedoch wollte sie nicht zulassen, weder die Hoffnung noch die Angst, deswegen ließ sie es dabei bewenden und sprach stattdessen Ebbo an, der den Getreidebrei in sich hineinlöffelte, ohne den Blick vom Teller zu nehmen. »Die Witwe Nickelsen braucht Hilfe. Die Gicht macht ihr mal wieder zu schaffen, sie kommt mit der Ernte nicht voran. Sie hat mich gefragt, ob du ihr helfen kannst. Ein Stück Butter will sie uns dafür geben.«
Aber Ebbo winkte ab. »Ich will mich heute bei der Inselbahn umsehen. Die brauchen starke Arbeiter, habe ich gehört. Auch in der ›Dünenhalle‹ und im ›Strandhotel‹ will ich mal nachfragen, ob die jemanden brauchen. Als Gepäckträger oder Schuhputzer.«
»Das kannst du morgen noch tun«, entgegnete Freda. »Für heute Abend könnte ich das Stück Butter gut gebrauchen.«
»Frag Geesche! Die gibt dir sicherlich ein Stück.«
»Geesche gibt uns schon genug. Ich weiß gar nicht, was ohne sie aus uns geworden wäre.«
Ebbo antwortete nicht. Hanna schwieg ebenfalls ihre Gedanken in die Getreidegrütze und verzichtete auch nach dem letzten Löffel darauf, etwas einzuwenden, mit dem sie Ebbo unterstützen oder ihrer Mutter recht geben konnte. Bei Hanna wusste man nie, auf wessen Seite sie stand, aber dass sie schwieg und nicht einmal den Versuch unternahm, mit ihrer Ansicht die Meinungen aufzurühren, kam selten vor.
Freda verstummte nun ebenfalls. Verzweifelt betrachtete sie Ebbos verstocktes Schweigen und Hannas stummes verschwörerisches Beipflichten, ohne zu ahnen, worin ihre Tochter einstimmte. Vielleicht wäre sie von dem Gedanken, der sie von nun an quälen würde, verschont geblieben, wenn sie nicht diesen kurzen Blick zwischen Ebbo und Hanna aufgefangen hätte, diese Frage in Ebbos Augen, dieses Nicken in Hannas Blick, die Bestimmtheit in Ebbos Miene und die winzige Bestätigung, die Hanna ihm zublinzelte.
Freda drehte sich um, griff nach dem Feuerhaken und stocherte in der Glut herum. Da war sie wieder, die Angst! Schwach und hilflos wurde sie durch diese Angst. Gab es dennkeinen Tag ohne Sorgen und Angst? Ein langer Sommer lag vor ihnen, in dem so viel
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