Hebamme von Sylt
Zusammenbruch. Entweder bekommt man dann in der nächsten Nacht kein Auge zu, oder man schläft wie ein Stein.«
Pollacsek nickte. »So muss es gewesen sein.«
»Seien Sie froh, dass Sie geschlafen haben. Nicht auszudenken, wenn Sie aufgewacht wären. Womöglich hätten Sie sich dem Kerl in den Weg gestellt! Dann lebten Sie vermutlich nicht mehr.«
Prompt griff sich Julius Pollacsek wieder an den Magen.
Aber Dr. Nissen machte eine Bewegung, als wollte er seine Hand verscheuchen. »Es wird Ihnen von nun an gesundheitlich besser gehen. Die Gefahr ist vorüber. Der Kerl hat, was er will. Sie können aufatmen.«
Geesche war zu Jale gegangen und hatte nach dem Neugeborenen gesehen, obwohl sie eigentlich am Abend vorher den Tinkelstocker bereit gestellt hatte, um Schnüre und Borten zu klöppeln, mit denen sie die Tisch- und Bettwäsche für die Sommerfrischler schmücken wollte, die es in ihrem Hause so komfortabel wie möglich haben sollten.
Doch fürs Klöppeln brauchte man Konzentration und einen freien Kopf, damit die Arbeit von der Hand ging. Geesche aber wusste, dass ihr an diesem Tag nichts gelingen würde. Sie fühlte sich sogar zu schwach, um sich um die Wäsche zu kümmern. Eine Weile hatte sie das Waschholz in der Hand gehalten, mit dem die nasse Wäsche geschlagen werden musste, damit siesauber wurde, dann wusste sie, dass sie es im Haus nicht aushalten würde. Schon immer war es so gewesen, dass sie zum Meer musste, wenn sie etwas quälte. Als Kind hatte sie am Strand gesessen, wenn sie Sehnsucht nach ihrem Vater gehabt und geglaubt hatte, ihn dort herbeiwünschen zu können, als junges Mädchen hatte sie Trauer, Glück, Verwirrung und Ungeduld zum Meer getragen, und später, als Andrees immer stiller und freudloser geworden war, war sie beinahe täglich durch die Dünen gegangen, um am Meer all die Fragen zu stellen, die Andrees nicht zu beantworten vermochte. Zwar war sie auch dort ohne Antworten geblieben, aber sie hatte doch Trost bekommen und eine innere Kraft und Ruhe, die sie in Andrees’ Gegenwart nicht mehr fand.
Sie steckte ihre Haare fest an den Kopf, während sie die Dünen durchschritt, hinter denen der Wind lauerte, der über das Meer kam. Dann, auf dem höchsten Punkt des Strandübergangs, blieb sie stehen, wie sie es immer tat, und vertiefte sich in den Anblick, bevor sie zum Strand hinabstieg. Sommerlich war das Meer an diesem Tag, von einem schönen, kräftigen Blau, mit Kronen von schneeweißer Gischt. So schön, so rein und durchsichtig, so über alle Zweifel erhaben! Seit Jahrhunderten warf es seine Brecher auf den Sand, solange sie lebte, war es ein Teil von ihr. Auf das Meer war Verlass, es veränderte sich nicht. Es war mal ruhig, mal wütend, spielte manchmal mit kleinen hüpfenden Wellen, rollte sie dann wieder mit einem tiefen Grollen auf den Sand, immer aber gehörte es zu ihrem Leben wie die Luft zum Atmen. Vor sechzehn Jahren genauso wie heute.
Sie sah sich um, als suchte sie etwas. Antwort auf ihre Fragen, wie zu der Zeit, als Andrees ihr nichts mehr entgegnen konnte? Warum hatte Graf Arndt das Geheimnis verraten? Warum nach sechzehn Jahren des Schweigens? Warum nur, warum? Und was hatte es zu bedeuten, dass Marinus das Unrecht wiedergutmachen wollte, das in der Nacht begangenworden war, als Elisa und Hanna geboren wurden? Was würde er ihr sagen, wenn er das nächste Mal zu ihr kam? Würde er mit Vorwürfen kommen, mit Anschuldigungen, mit Forderungen? Warum war er zu Freda gegangen und nicht zu ihr?
Geesche beobachtete die Badewärterinnen, die die Badekarren ins Wasser zogen, in denen die Sommerfrischler ihre Kleidung gewechselt hatten und nun darauf warteten, direkt vom Badekarren ins Meer steigen zu können, ohne erst über den Sand und durchs seichte Wasser laufen zu müssen. Die Badewärterinnen waren Frauen meist fortgeschrittenen Alters, kräftig, derb, mit strengen Gesichtern. Sie trugen allesamt die Haare in der Mitte gescheitelt und im Nacken festgesteckt. Einige hatten Kopftücher darüber geschlungen, alle liefen sie barfuß. Ihre Kleider waren aus dunklem grobem Leinen gefertigt, mit langen Ärmeln, hohen Kragen und weiten Röcken. Darüber hatten sie Schürzen gebunden, die dem tristen Grau der Kleidung etwas Farbe gaben. Nachdem sie die Badekarren ins Meer gezogen hatten, halfen sie den Damen beim Umkleiden und sorgten für die Befestigung der Sicherheitsleine, damit niemand in eine Untiefe getrieben wurde. Diese Badwärterinnen hatten bisher zu
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