Hebamme von Sylt
erzählen ließ, was den Kurdirektor derart aufgebracht hatte, dass seine Gastritis eine ganz neue Dimension angenommen hatte. »Ich werde nach Ihrer Haushälterin schicken lassen«, beschloss er dann. »Sie soll Ihnen Tee kochen. Und dann müssen Sie sich eine Weile hinlegen!«
Dr. Nissen unterband jede Widerrede und stieg ins Erdgeschoss hinab, um den Bürovorsteher damit zu beauftragen, die Haushälterin zu holen.
Als er wieder im Büro erschien, hatte er anscheinend erfahren, was in der vergangenen Nacht passiert war. Noch ehe er sich dazu geäußert hatte, wurde er gleich von Heye Buuß ins Verhör genommen. »Stimmt es, was Dr. Pollacsek sagt? Sie haben gestern Abend einen Mann ums Haus schleichen sehen?«
Dr. Nissen setzte sich und schlug die Beine elegant übereinander, als wäre er einer Einladung zum Tee gefolgt. »Ganz recht«, bestätigte er. »Ein schwarz gekleideter Mann mit schwarzen Haaren. Alles an ihm war so schwarz, dass ich ihn in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. Deswegen habe ich ihn auch schnell aus den Augen verloren. Ich sah ihn in den Garten schleichen, ging ihm nach, aber …«
»Kennen Sie diesen Mann?«, unterbrach ihn der Inselvogt.
Dr. Nissen schüttelte den Kopf. »Allerdings ist mir zu Ohren gekommen, dass seit Tagen ein schwarz gekleideter Mann in Westerland herumschleicht, der ehrbare Bürger beobachtet.«
»Wer hat Ihnen das erzählt?«, fragte Heye Buuß.
Dr. Nissen überlegte eine Weile, dann bedauerte er: »Ich weiß es nicht mehr …«
»Ist ja auch egal«, ging Dr. Pollacsek dazwischen. »Wir wissen, dass es auf Sylt einen solchen Mann gibt. Ich selbst habe gesehen, dass er mein Haus beobachtet hat.«
»Nun wissen Sie auch, warum«, meinte Dr. Nissen.
Der Kurdirektor fuhr sich verzweifelt durch die Haare. »Aber er gehört zum Gefolge der Königin! Wir können unmöglich in der Villa Roth eine Hausdurchsuchung durchführen.«
»Wenn er der Täter ist«, meinte Dr. Nissen nachdenklich, »kann man nichts machen. Die Königin zu brüskieren … das könnte böse Folgen für den Fremdenverkehr haben.«
»Es sei denn, wir wären uns unserer Sache sicher«, warf Heye Buuß ein. »Wenn wir Beweise hätten und noch dazu die Beute fänden …«
»Sie können nicht sicher sein«, sagte Dr. Nissen bestimmt. »Die Tatsache, dass dieser Mann auf Sylt herumschleicht und friedliche Leute bespitzelt, ist kein Beweis dafür, dass er Lohngelder stiehlt. Und wenn er die Beute nicht in der Villa Roth versteckt hat, sondern … irgendwo anders, dann sind Sie der Blamierte, Herr Buuß.«
Man sah dem Inselvogt an, dass ihm diese Rolle nicht gefiel. Er zog die Hosenträger in die Höhe und ließ sie auf seine Schultern zurückschnellen. »Wir müssen diplomatisch vorgehen.«
Dr. Pollacsek ahnte, was das bedeutete: Der Dichter würde ungeschoren davonkommen und er sein Geld nie wiedersehen.
»Ich werde mich umhören«, versprach Heye Buuß und hatte es nun eilig, sich zu verabschieden. »Aber ganz vorsichtig«, ergänzte er mit erhobenem Zeigefinger. »Wir können nur hoffen, lieber Pollacsek, dass ein diskretes Vorgehen noch möglich sein wird, nachdem Sie die Sache schon an die große Glocke gehängt haben …«
Julius Pollacsek stöhnte auf, als der Inselvogt das Haus verlassen hatte. »Das Geld kann ich abschreiben. Was soll ich den Leuten sagen, wenn sie heute ihren Lohn nicht bekommen?«
Dr. Nissen blickte ihn mitfühlend an. »Ein Haufen Geld, das Sie verloren haben! Aber einen Mann aus dem Gefolge der Königin bezichtigen? Noch dazu ohne Beweise?«
»Völlig unmöglich!«, antwortete Dr. Pollacsek. Kopfschüttelnd starrte er auf seine Schuhspitzen. »Dass ich den Kerl nicht gehört habe! Der hat eine Tür aufgebrochen!«
»Am anderen Ende des Hauses.«
»Aber dann ist er durchs Haus geschlichen. Er muss in meinem Schlafzimmer gewesen sein. Die Tresorschlüssel lagen auf meinem Nachttisch!«
»Sie hatten sehr viel Cognac getrunken.«
Dr. Pollacsek nickte schuldbewusst. »Wahrscheinlich habe ich deswegen so fest geschlafen.«
»Sie befanden sich in einer Ausnahmesituation«, erklärte Dr. Nissen verständnisvoll. »Sie fühlten sich bedroht, nachdem Sie die Schritte gehört hatten. Dann die Angst, dass der Kerl vor der Tür steht!«
»Aber dann die Erleichterung, dass Sie es waren«, ergänzte Pollacsek mit einem schiefen Grinsen.
Dr. Nissen gab das Lächeln zurück. »Und schließlich der Alkohol! Diese Aneinanderreihung führt nicht selten zu einem psychischen
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