Hebamme von Sylt
Worte in sich verschließen, begriff sie seine Abneigung. Nie vorher war ihr in den Sinn gekommen, dass er sie verabscheute! Geesche Jensen teilteein Geheimnis mit ihm, das ihn alles kosten konnte, was ihm wichtig war. Und deswegen durfte sie durch die Heirat mit seinem Halbbruder niemals zur Familie gehören. Er hatte nur einen Ausweg gesehen, seinen Bruder von der Ehe abzubringen. Er hatte Marinus verraten müssen, warum er die Hebamme niemals heiraten dürfe. Um sie aus seinem Leben herauszuhalten, um der Vergangenheit niemals Macht über die Gegenwart zu geben, hatte er seinem Bruder das Geheimnis anvertraut, damit Marinus sie genauso verabscheute wie sein Bruder. Deswegen war er am Morgen nicht zu ihr gekommen! Deswegen war er zu Freda gegangen und nicht zu ihr!
»Nein, das war es nicht, worüber ich mit Ihnen reden wollte«, sagte Geesche und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.
Graf Arndt betrachtete sie erstaunt. »Worüber dann?«
Geesche starrte ihn an, suchte nach Worten … da ertönte eine energische Stimme in ihrem Rücken. »Gut, dass ich Sie treffe!«
Geesche fuhr herum und sah Heye Buuß entgegen, der den Strandübergang herunterkam. Als sie sich zurückwandte, konnte sie an Graf Arndts Gesicht ablesen, dass auch er den Inselvogt nicht bemerkt hatte.
Heye Buuß schien nicht auf die Idee zu kommen, dass er ein Gespräch gestört hatte. »Mir wurde ein Verstoß gegen die Sitte gemeldet. Angeblich ist ein Mann in den Dünen oberhalb des Damenbades gesehen worden!« Er sah erst den Grafen, dann Geesche freundlich an. »Haben Sie etwas bemerkt?«
Geesche schüttelte den Kopf, und Graf Arndt entgegnete kurzab: »Wie sollte mir etwas Derartiges auffallen, wenn ich mich hier im Bereich des Familienbades aufhalte?«
Heye Buuß lachte. »Das Geschrei muss so groß gewesen sein, dass es womöglich hier zu hören war.«
Graf Arndt schüttelte ärgerlich den Kopf, und Geesche überlegte sich, wie sie sich entfernen konnte, ohne unhöflichzu wirken. Dass sie das Gespräch mit Graf Arndt fortsetzen konnte, daran glaubte sie nicht mehr. Heye Buuß gehörte nicht zu den sensiblen Mitmenschen, die merkten, wenn ihre Anwesenheit unerwünscht war.
»Um alles muss man sich selber kümmern«, schimpfte er. »Als hätten wir keinen Kurdirektor! Aber der schert sich um gar nichts! Dabei ist er für Verstöße gegen die Sitte zuständig.«
»Er soll gesundheitliche Probleme haben«, versuchte Geesche einzuwenden.
Heye Buuß schien plötzlich ein Stück größer zu werden. »Wenn es das nur wäre!«, rief er und genoss die fragenden Blicke sowohl des Grafen als auch der Hebamme. »Sie haben wohl noch nichts von dem Diebstahl gehört? Dr. Pollacsek sind in der letzten Nacht die Lohngelder gestohlen worden! Zigtausende! Der Mann ist am Boden zerstört!« Heye Buuß nickte zum Strandkorb der Gräfin, die sich noch immer mit Dr. Nissen unterhielt und nun nicht mehr auf das Meer hinausblickte, sondern ihm interessierte Fragen zu stellen schien. »Dr. Pollacsek musste sogar nach dem Arzt rufen lassen.«
Geesche vergaß für ein paar Augenblicke die Fragen, die sie Graf Arndt stellen wollte, und auch er sah nun wissbegierig aus, obwohl noch vorher Überdruss auf seinem Gesicht erschienen war.
Lang und breit berichtete der Inselvogt von dem dreisten Verbrechen, schilderte jede Einzelheit und wurde besonders ausführlich, als er sich darüber beklagte, dass der Kurdirektor so unvorsichtig gewesen war, Zeter und Mordio zu schreien, als er den leeren Tresor gesehen hatte. »Besser wäre es gewesen, er hätte Stillschweigen bewahrt. Nun spricht sich der Raub in Windeseile herum, und es ist nicht mehr möglich, vorsichtige Nachforschungen anzustellen.«
Graf Arndt runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?«
Heye Buuß versicherte, dass er gegen einen Sylter, der in Verdachtstand, einen Diebstahl begangen zu haben, erbarmungslos vorgehen würde. »Schließlich wollen wir, dass sich unsere Badegäste auf Sylt wohlfühlen.« Dann kam er behutsam darauf zu sprechen, dass sich hochgestellte, reiche und vornehme Gäste auf der Insel aufhielten, die von Menschen begleitet wurden, denen sie vertrauten, die dieses Vertrauen jedoch nicht verdienten. »Wie sollen wir mit denen ins Gericht gehen?«
Graf Arndt wich einen Schritt zurück. Das unverständliche Gerede des Inselvogts schien ihn zu ärgern. »Wollen Sie behaupten, einer der Badegäste hätte den Diebstahl begangen?«, fragte er ungehalten.
Heye Buuß wies
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