Hebamme von Sylt
aber die Neugier war stärker als sein Magendruck.
Kurz darauf lag eine Kaffeebohne auf seiner Handfläche. Stirnrunzelnd betrachtete er sie. In seinem Hause wurde niemals Kaffee getrunken! Das war etwas für reiche Sommerfrischler. Die Sylter tranken Tee, und wenn sie es sich leisten konnten, mit vielen Kluntjes, wie die Kandisstückchen genannt wurden, und frischer Sahne. Aber niemals Kaffee! Wer ihn einmal probiert hatte und nicht mehr auf den Geschmack verzichten wollte, der begnügte sich mit einem Gebräu aus gebrannten Zichorien, eine zwar magenfreundliche, aber koffeinfreie Variante des Kaffees, die diesen Namen nicht verdiente.
Gedankenvoll ließ er die Kaffeebohne in seiner Jackentasche verschwinden. Vermutlich hatte sie einer seiner vielen Besucher verloren, die täglich in sein Haus kamen, weil er selbst sich immer seltener in der Badedirektion blicken ließ. Eigentlich sollte er täglich dort erscheinen, damit er sich nicht nur um die Erweiterung der Inselbahn, sondern auch um das Aufblühen des Seebades Westerland kümmerte, aber seit er zum ersten Mal die Schritte hinter seinem Haus gehört hatte und von seinen Magenschmerzen gequält worden war, hielt er sich am liebsten in seinem Büro in der Strandstraße auf und verließ dieses Haus so selten wie möglich.
Es klopfte, der Bürovorsteher erschien und meldete, dass Dr. Nissen bald eintreffen würde. »Der Bote war im Haus der Hebamme. Dr. Nissen saß beim Frühstück. Sobald er fertig ist, wird er kommen.«
Dr. Pollacsek nickte zufrieden, obwohl das Wort »Frühstück« prompt für Unordnung in seinem Magen-Darm-Trakt sorgte. Oder war es die Frage, die sich in diesem Augenblick auftat? »Wie mag der Kerl ins Haus gekommen sein?«
Es stellte sich heraus, dass der Bürovorsteher noch aus einem anderen Grunde im Büro seines Chefs erschienen war. »Mir ist gerade aufgefallen, dass die Tür des Abstellraums aufgebrochen worden ist.«
»Die Tür, die in den Garten führt?«
Der Bürovorsteher nickte. »Da ist jemand mit ziemlicher Gewalt zu Werke gegangen. Komisch, dass Sie das nicht gehört haben.«
Dr. Pollacsek betrachtete ihn nachdenklich. »Anscheinend ist mein Schlaf besser, als ich dachte. Der Kerl muss sogar in mein Schlafzimmer gekommen sein.« Er schüttelte sich bei der Vorstellung, dass er ahnungslos im Schlaf gelegen hatte und einem Kriminellen, der vermutlich nicht vor Gewalt zurückschreckte, ausgeliefert gewesen war. »Der Tresorschlüssel liegt nachts immer neben meinem Bett.« Julius Pollacsek machte einen Schritt auf den Tresor zu und zeigte auf den Schlüssel, der in der geöffneten Tür steckte. Wieder schüttelte er sich. Die Gefahr, in der er während der letzten Nacht geschwebt hatte, machte ihm zu schaffen. Da war also jemand in sein Haus eingedrungen, war in sein Schlafzimmer geschlichen, dann die knarrende Treppe hoch in sein Büro … und er hatte nichts davon bemerkt. »Ich muss tief und fest geschlafen haben«, sagt er staunend. »Ich war schrecklich müde. Als Dr. Nissen sich verabschiedet hatte, bin ich sofort zu Bett gegangen.«
Zum Glück konnte er das Unwohlsein bald wieder abschütteln. Vielleicht würde jetzt alles besser werden? Er spürte plötzlich so etwas wie Erleichterung in sich aufsteigen. Trotz des katastrophalen Verlustes, den er erlitten hatte, tat es ihm gut zu wissen, dass endlich eingetreten war, wovor er sich gefürchtet hatte. Möglicherweise war nun der Spuk vorbei. Bisher hatte er nicht gewusst, warum er bedroht wurde, nun war es klar. Wenn der Kerl, der ihn beobachtet hatte, auf die Lohngelder aus gewesen war, dann hatte er nun, was er wollte. Also würde es ein Ende haben mit den Geräuschen, die aus demdunklen Garten bis in die erste Etage drangen. Dann würde es vielleicht auch mit seiner Gesundheit bergauf gehen und bald alles wieder so sein wie an dem Tag, an dem er beschlossen hatte, aus Sylt eine blühende Insel zu machen. Er hatte überlebt! Mit der Angst, jemand könne ihm nach dem Leben trachten, war es nun vorbei!
Als Heye Buuß erschien, fühlte er sich ein wenig besser, konnte schon wieder klar denken und bereute es nun, dass er nicht diskreter mit der Sache umgegangen war. Inzwischen hatten vermutlich schon die ersten Verlautbarungen sein Haus verlassen und liefen als Gerüchte über die Strandstraße und die Friedrichstraße. Es wäre besser gewesen, zunächst unter vier Augen mit dem Inselvogt zu reden und in aller Ruhe mit ihm zu besprechen, wie in seinem solchen Fall
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