Hebamme von Sylt
den Ärmsten der Armen gehört. Mittellos zurückgebliebene Witwen, unverheiratete Frauen ohne Einkommen, die ehedem auf Gedeih und Verderb ihren Verwandten ausgeliefert gewesen waren. Frauen, deren Männer auf große Fahrt gegangen und nie zurückgekehrt waren. Jetzt hatten sie ein kleines Auskommen gefunden. Zwar bestand ihre Entlohnung nur aus Trinkgeldern, aber die meisten Badegäste waren großzügig, so dass immer mehr Frauen auf die Idee kamen, als Badewärterinnen zu arbeiten.
Wie sehr sich der Strand verändert hatte in den letzten Jahren! Im Sommer war es vorbei mit der mächtigen Stille und Einsamkeit, die Geesche früher hier gefunden hatte. Nun gab es den Pavillon am mittleren Strandübergang, Badekarren standen im Wasser, und sowohl das Herren- als auch das Damenbadverfügten über ein Badehaus. Ja, Dr. Pollacsek hatte wohl recht. Westerland war auf dem Weg zum Seebad.
Zögernd begann Geesche den Abstieg zum Strand. Wenn sie Sehnsucht nach ihrem Vater gehabt hatte, wenn die Fragen sie quälten, die Andrees nicht beantworten konnte, dann war sie stets allein am Strand gewesen. Jetzt aber musste sie ihn mit Fremden teilen und fragte sich, ob sie hier wirklich besser aufgehoben war als in ihrer Küche vor dem Tinkelstocker. Wie sollte sie hier Klarheit finden? Wie sollte sie hier verstehen, warum Graf Arndt seinen Schwur gebrochen hatte? Und wie mit ihrer Angst fertigwerden, dass Marinus ihr niemals verzeihen würde?
Die Familie von Zederlitz hatte sich in der Nähe des Strandpavillons niedergelassen. Die Gräfin saß in ihrem Strandkorb und blickte auf das Meer hinaus, während sie sich mit Dr. Nissen unterhielt, der vor ihr auf einem zierlichen Klappstuhl saß. Elisa vergnügte sich mit Hanna an der Wasserkante, wo sie ihre Stiefeletten den Wellen anbot und sie immer im allerletzten Augenblick vor ihnen rettete. Graf Arndt schien die Gelegenheit nutzen zu wollen, eine Weile allein zu sein. Mit kleinen Schritten entfernte er sich in Richtung der Dünen, blieb immer wieder stehen, sah zurück, betrachtete seine Frau, spazierte dann gemächlich weiter. Er schien die Einsamkeit zu suchen, ein Fleckchen in den Dünen zwischen den Büscheln des Strandhafers, wo er sich niederlassen und hoffen konnte, für eine Weile unsichtbar zu bleiben.
Zwar hatte Geesche in den vergangenen sechzehn Jahren kein einziges Mal mit ihm gesprochen, aber beobachtet hatte sie ihn oft und nun das Gefühl, ihn gut zu kennen. Mehr als einmal hatte sie ihn nachdenklich umherwandern oder in der Sonne sitzen sehen und sich gefragt, welchen Gedanken er nachhing. Wenn er sie bemerkte, hatte er höflich gegrüßt, aber niemals das Wort an sie gerichtet.
Er schien ihre Gegenwart nicht zu spüren, blickte nichthoch, sah nicht, dass sie über ihm stand, ungefähr auf der Hälfte des Strandübergangs. Oder war er absichtlich in diese Richtung gegangen? Wollte er ihr erklären, was er getan hatte? Und warum er es getan hatte?
Nein, diesen Gedanken verwarf sie gleich wieder, als sie sein Erschrecken sah, nachdem er sie bemerkt hatte. Es schien, als stünde nicht die Hebamme von Sylt vor ihm, sondern die leibhaftige Vergangenheit.
Doch er hatte sich schnell wieder in der Gewalt, lüftete grüßend seinen weißen Strohhut, ohne ein Wort zu sagen, und schickte sich an, in anderer Richtung davonzugehen.
Geesche musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, bevor sie einen Schritt auf ihn zu machte. »Darf ich kurz mit Ihnen sprechen, Herr Graf?«
Er sah sie unwillig an. »Wenn es um meinen Bruder geht … ich werde seine Heiratspläne nicht unterstützen.«
Geesche sah ihn verwirrt an. Ahnte er wirklich nicht, welche Frage ihr auf den Lippen lag? Rechnete er nicht damit? Wie konnte er nun davon reden, dass Marinus sie heiraten wollte?
»Ich weiß, dass Sie seinen Antrag mehr als einmal abgelehnt haben«, fuhr Graf Arndt fort, »und ich finde Ihre Haltung sehr vernünftig. Unter den gegebenen Umständen ist eine Verbindung zwischen meiner Familie und Ihnen alles andere als wünschenswert.«
Geesche starrte ihn an. War das alles, was er ihr zu sagen hatte? Wollte er sie wirklich mit diesen Worten abspeisen?
Aber dann verstand sie plötzlich. Eine Veränderung ging im Gesicht des Grafen vor, ein so jäher Wandel vollzog sich auf seiner Miene, dass sie mit einem Schlage zu durchschauen glaubte, was sich zugetragen hatte. Als die Kälte der Zurückweisung seine Augen erreichte und sein Mund zu einer schmalen Linie wurde, als wollte er heftigere
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