Hebamme von Sylt
ihn um Geld zu bitten. Ob seine Großzügigkeit die brüderliche Liebe zurückholen konnte? Oder ob alles noch schlimmer wurde, wenn Marinus vor Augen geführt wurde, dass Arndt ihm als der legitime Spross ihres gemeinsamen Vaters überlegen war?
»Schrecklich!«, wiederholte er und zwang sich, an nichts anderes als an den Diebstahl der Lohngelder zu denken. »Und kein Hinweis auf den Täter!«
»So kann man das nicht sagen«, entgegnete Dr. Nissen. »Es gibt einen Verdacht. Ich habe zufällig am Abend vorher eine Beobachtung gemacht. Ein Mann, der um das Haus des Kurdirektors schlich. Nur leider …«
»Es gibt keine Beweise«, ergänzte Katerina, und die Flamme in ihren Augen schien noch ein wenig heller.
Erstaunt betrachtete Graf Arndt seine Frau. Dass er immer wieder etwas Neues an ihr entdeckte! Es war wie ein kleines Wunder für ihn. Dass sie an einem Skandal Interesse haben könnte, hätte er bis zu diesem Tag nie für möglich gehalten.
Er hörte sich Dr. Nissens Erzählung an, ohne Katerina aus den Augen zu lassen. Dann wandte er sich Dr. Nissen zu und sagte: »Der Inselvogt hat mir ebenfalls von dem Verdacht berichtet. Aber … wenn Sie einen Mann mit schwarzen Haaren und in schwarzer Kleidung gesehen haben, kann es nicht der rumänische Lyriker gewesen sein. Ich habe Heye Buuß gesagt, dass ich den ganzen Abend mit Ioan Bitu verbracht habe. Anscheinend gibt es noch andere Menschen auf Sylt, die schwarze Haare und einen schwarzen Bart haben und sich so kleiden wie er.«
Nun loderte es geradezu in Katerinas Augen. »Oder jemand hat diese Ähnlichkeit absichtlich herbeigeführt, um den Verdacht auf den Begleiter der Königin zu lenken!«
Graf Arndt betrachtete die winzige Locke, die der Wind aus der kunstvollen Frisur seiner Frau gelöst hatte und die sich nun über ihrem linken Ohr bewegte wie ein Insekt mit durchsichtigen Flügeln. Dass sie es nicht bemerkte und nicht sofort nach Eveline rief, damit das Dienstmädchen die Locke wieder feststeckte, erzeugte in ihm ein Staunen, das er nach einer so langen Ehe nicht mehr für möglich gehalten hätte. Die Liebe, die er in Momenten wie diesem empfand, machte ihn glücklich, aber auch so schwach, dass er sich manchmal wünschte, eine reine Vernunftehe eingegangen zu sein. Dann wäre er nie in Versuchung geraten, etwas Unrechtes zu tun.
Graf Arndt stand auf und sah auf das Meer hinaus, als langweilte ihn das Gespräch. Er hatte recht daran getan, nie wieder mit der Hebamme zu reden und ihr, so gut es möglich war, aus dem Weg zu gehen. Diese Begegnung vor wenigen Minuten hatte es ihm gezeigt. Sie hatte ihm nicht gutgetan. Er spürte wieder die Last der Vergangenheit auf seinen Schultern, von der er manchmal glaubte, er hätte sie abgeschüttelt.
Und wieder sagte er sich, dass Schluss sein musste mit Sylt. Irgendwie musste es ihm gelingen, es Katerina zu erklären.
»Ich bin glücklich«, sagte Elisa und schmiegte sich an Ebbos Seite. »Und ich werde glücklich bleiben, weil ich die Erinnerung an dich habe. Niemand wird sie mir nehmen können.«
»Vielleicht geht der Kelch an uns vorüber«, meinte Ebbo, »und er wird nicht um deine Hand anhalten.«
»Wenn nicht er, dann ein anderer.«
Elisas Worte kamen hell und klar, sogar unbekümmert und leicht, während Ebbo mürrisch sprach und seine Stimme voller Auflehnung war. Ebbo wollte ihr nicht glauben. Oder er konnte es nicht. Vielleicht lag es daran, dass sie eine Dünenlandschaft durchschritten, deren Schönheit er nicht erkannte, weil er nie etwas anderes gesehen hatte. Er nahm sie nicht insich auf wie Elisa, verband den Augenblick nicht mit ihrem Anblick und fand ihn deshalb nicht erträglicher als jeden anderen heimlichen Moment, dem immer auch die Angst innewohnte.
Elisa jedoch konnte den Blick auf die Dünenlandschaft trotz der Schwermut genießen. Der weiße Sand funkelte unter der Sonne, der Himmel stand in einem klaren Blau über ihnen, das Dünengras wiegte sich, an einigen Stellen waren die Dünen von Kartoffelrosen überwuchert. Für Elisa war diese Welt zu schön, um traurig zu sein, und die Gegenwart zu zerbrechlich, um sie der Zukunft auszusetzen.
Sie hätten auf dem Kamm der Düne weiterlaufen können, den Strand tief unter sich, das Meer vor sich, den Möwen ganz nah, aber sie zogen es vor, in ein Dünental hinabzusteigen, wo sie sich allein fühlen konnten.
Elisa drehte sich zu Hanna um, die in dem nachgiebigen Sand Schwierigkeiten hatte, ihnen zu folgen. »Machen wir es so wie
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