Hebamme von Sylt
wieder geschlossen, als sie den Mann sah, der dort auftauchte, wo Hanna auf ihre Sicherheit achten sollte. Er starrte so lange auf sie herab, bis sie endlich ihr Mieder zugehakt und den Rock über die Knie gezogen hatte. Dann erst wandte er sich ohne ein Wort um und verschwand.
Über ihren Köpfen gab es einen Wirbel, viel Sand rieselte herab. Wären Ebbo und Elisa zu einem klaren Gedanken fähig gewesen, hätten sie sich fragen müssen, ob tatsächlich jemand über ihnen im Dünengras gelegen und sie beobachtet hatte. Aber in ihren Köpfen hatte keine andere Frage Platz als die, die Ebbo aussprach: »War er das?«
Elisa nickte. Ihre Antwort war kaum zu verstehen. »Das war Alexander von Nassau-Weilburg.«
XIV.
Geesche wusste, es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten. Irgendwann würde Marinus kommen und sie zur Rede stellen. Und wenn er nicht kam, würde es so sein wie damals bei Andrees. Dann hatte sie ihn verloren. Dann wollte er sich ihre Erklärungen nicht anhören, dann hatte er sein Urteil längst gefällt.
Unruhig ging sie von der Küche in den Flur, von dort in die Wohnstube und wieder zurück. Zum ersten Mal wünschte sie sich, Hanna würde sie ablenken. Aber die verbrachte den Tag am Strand, um Elisa von Zederlitz die Zeit zu vertreiben. Wenn Freda doch kommen würde! Aber sie hatte Dr. Nissens Zimmer längst geputzt und alles hergerichtet, was er brauchte, wenn er am Abend vom Strand zurückkehrte. Im Winter, bevor die Sommergäste nach Sylt gekommen waren, hatte auchEbbo oft einen Besuch bei ihr gemacht, aber der lag vermutlich auf irgendeiner Düne im Gras und verschlang die junge Comtesse mit seinen Blicken.
Geesche seufzte. Hoffentlich musste Freda nie die ganze Wahrheit erfahren. Was hatte Marinus sich nur dabei gedacht, Freda Geld anzubieten? Er hätte sich sagen müssen, dass er damit Fragen heraufbeschwor, die nicht zu beantworten waren. Oder … wollte er etwa, dass sie beantwortet wurden? Würde er am Ende von Geesche verlangen, dass sie Freda die ganze Wahrheit sagte? Dazu war es zu spät. Das musste er einsehen!
Sie trat aus dem Haus und ging zu einer alten Holzbank, die selten benutzt wurde. Neben der Haustür gab es eine frisch lackierte, die sie jeden Morgen sorgfältig säuberte, damit ein Feriengast darauf Platz nehmen konnte, ohne seine Kleidung schmutzig zu machen. Am Eingang des Kohlgartens jedoch stand diese alte Bank, auf die sie sich setzte, wenn sie Gemüse putzte oder ein Huhn rupfte. Dort fühlte sie sich jetzt sicherer als vor dem Haus, wo jeder Besucher und jeder Vorübergehende sie sofort sehen konnte. Sie wollte mit niemandem reden, nur mit Marinus. Vielleicht gab er ihr die Chance zu erklären, warum sie damals so gehandelt hatte …
Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte, als endlich Schritte aufs Haus zukamen. Das leise Gackern der Hühner und das Zischen der Gänse hatten sie eingelullt, das Säuseln des Windes, das Krächzen der Möwen und gelegentlich eine Stimme, die aber weit genug entfernt gewesen war, um nicht aufhorchen zu müssen. Die Schritte jedoch, die sie jetzt hörte, würden nicht vorübergehen, sie kamen auf sie zu. Noch bevor sie Marinus sah, wusste Geesche, dass er es war, der zu ihr kam. Nun erschien schon sein Oberkörper auf dem Steinwall, der ihr Grundstück umgab. Er trug den Kopf hoch, sein Blick war auf die Haustür gerichtet, als hoffte er, Geesche würde darin erscheinen, um ihn willkommen zu heißen. Seine Augen lächelten …
Geesche sprang auf. Ja, seine Augen lächelten! Er hatte ihr also bereits verziehen. Oder … er würde es tun, wenn sie ihm erklärte, wie es zu dem gekommen war, was sie heute so bitter bereute.
Marinus bemerkte sie, als er vor der Haustür angekommen war und zur Klinke greifen wollte. Und als er sich zu ihr umdrehte, lächelte auch sein Mund. »Hast du auf mich gewartet?«
»Ich habe schon heute Morgen auf dich gewartet.«
Er sah sie zerknirscht an. »Tut mir leid. Ich hatte heute Morgen etwas Wichtiges zu erledigen.«
»Ich weiß, du hast Freda Geld gebracht.« Sie nahm seinen Arm und zog ihn zu der Bank, auf der sie gesessen hatte, um auf ihn zu warten. »Sie war bei mir und hat es mir gezeigt. Natürlich versteht sie nicht, warum du ihr so viel Geld gibst.«
Marinus, der sich zunächst bereitwillig hatte mitziehen lassen, wurde nun steif und befreite sich aus Geesches Händen. »Wirklich nicht?«, fragte er, als er neben Geesche saß. »Wenn sie es nicht wusste, so muss sie es doch
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