Hebt die Titanic
Tropfen und verwischte die Sicht. Also griff Pitt wieder nach der Zeitschrift und blätterte darin, ohne wirklich etwas zu lesen. Noch vor zwei Tagen hätte er nicht geglaubt, daß er so kurzfristig die Bergungsoperation verlassen würde. Und noch verwunderlicher wäre ihm sein Reiseziel erschienen: Teignmouth in Devonshire, ein kleiner, malerischer Badeort an der Südostküste Englands. Dort lag ein alter Mann im Sterben, den er interviewen mußte.
Diesen Auftrag hatte ihm Admiral James Sandecker erteilt. Eine Art Pilgerfahrt hatte er es genannt, als er Pitt in das Hauptquartier von NUMA nach Washington beordert hatte. Eine Pilgerfahrt zum letzten noch lebenden Mannschaftsmitglied der Titanic.
Am Zielbahnhof nahm Pitt ein Taxi und ließ sich zu dem kleinen Landhaus mit Meerblick fahren. Durch eine mit Efeu überwachsene Gartenpforte und zwischen Rosenbüschen ging er auf das Haus zu. Ein Mädchen – rothaarig und mit fast violett schimmernden Augen – öffnete ihm. »Guten Morgen, Sir«, grüßte sie mit leicht schottischem Akzent.»Guten Morgen.«
Er nickte höflich. »Mein Name ist Dirk Pitt. Ich –«
»Ja, wir wissen Bescheid. Admiral Sandecker hat uns telegrafiert. Bitte kommen Sie herein. Der Kommodore erwartet Sie.« Zu einer weißen Bluse trug sie einen grünen Wollpullover und dazu passenden Rock. Er folgte ihr in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer mit flackerndem Kaminfeuer.
Schiffsmodelle und eingerahmte Farbdrucke und Stiche von berühmten alten Segelschiffen deuteten darauf hin, daß hier ein Seemann seinen Alterssitz hatte.
»Sicherlich haben Sie eine anstrengende Reise hinter sich«, sagte das Mädchen. »Darf ich Ihnen ein Frühstück machen?«
»Nur, wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe bereitet, Miss –?«
»Oh, Verzeihung. Ich bin Sandra Ross, die Urenkelin des Kommodore.«
»Ich nehme an, Sie kümmern sich um ihn?«
»So oft ich kann. Ich bin Stewardess bei Bristol Airlines. Eine Frau aus dem Dorf kümmert sich um ihn, wenn ich fliegen muß.« Sie machte eine einladende Geste den Gang entlang. »Während ich Ihnen Frühstück mache, können Sie sich ja schon mit meinem Urgroßvater unterhalten. Trotz seines hohen Alters ist er geistig noch sehr rege. Er brennt schon darauf, mehr von der Bergungsoperation der Titanic zu hören.«
Sie öffnete eine Tür, meldete den Besucher und zog sich zurück. Kommodore Sir John L. Bigalow – Knight Commander of the British Empire, Royal Navy Reserve, in Pension – saß an Kissen gelehnt in einem kojenartigen Bett und musterte Pitt mit blauen Augen, deren Blick wie aus einer versunkenen Zeit herüberzugrüßen schien. Seine wenigen Haarsträhnen und der Bart waren schlohweiß, und er hatte immer noch die von Wind und Wetter rötlich gegerbte Gesichtshaut eines Seemanns. Zu Ehren seines Besuchers hatte er offenbar einen Rollkragenpullover über sein altmodisches Nachthemd gezogen.
Pitt wunderte sich über den kräftigen Griff, als er dem Alten die Hand schüttelte. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Kommodore. Besonders weil ich soviel über Ihre fast an ein Wunder grenzende Rettung von der Titanic gelesen habe.«
»Halb so wichtig«, sagte der Kommodore abwinkend. »In beiden Weltkriegen sind meine Schiffe torpediert worden, und ich bin stundenlang in Seenot gewesen, aber alle wollen immer nur etwas von jener Nacht auf der Titanic hören.« Er deutete auf einen Sessel. »Setzen Sie sich doch.« Und als Pitt der Einladung gefolgt war, fragte er sofort: »Was können Sie mir von der Titanic erzählen? Wie sieht sie nach all den Jahrzehnten aus? Ich war damals sehr jung, aber ich kann mich noch genau an jedes Deck und viele andere Einzelheiten an Bord erinnern.«
Pitt griff in die Tasche und zog einen Umschlag mit Fotos hervor. »Die Aufnahmen sind erst vor einigen Wochen von einem unserer Tauchboote aus gemacht worden«, erklärte er, als er Bigalow die Fotos gab. »Sie können ziemlich deutlich sehen, wie gut das Schiff erhalten ist.«
Kommodore Bigalow setzte eine Lesebrille auf und musterte die Fotos. Eine Schiffsuhr neben dem Bett tickte in die Stille hinein, während der alte Seemann die Bilder betrachtete und bei ihrem Anblick in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt wurde.
»Sie war eine Klasse für sich«, sagte er träumerisch. »Ich kann das behaupten, denn ich bin auch auf all den anderen gefahren: der Olympic… Aquitania… Queen Mary… Sicher, die waren zu ihrer Zeit auch moderne Schiffe, aber mit der
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