Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
teilt Bérénice mit, dass er ihrer Liebe entsagen muss, um Kaiser von Rom bleiben zu können. Die Römer hätten es nämlich nicht toleriert, wenn in der Liste der Kaiserinnen plötzlich eine Art Palästinenserin gestanden hätte.«
»Liebe und Pflicht«, sagte Ophélie. »Ich frage mich, ob dieser Konflikt noch aktuell ist. Heute entscheiden sich doch alle für die Liebe …«
»Da täusche dich nur nicht, liebe Ophélie«, sagte der alte François und schaute Hector an. »In unser aller Leben gibt es Augenblicke, in denen wir diese schwierige Wahl treffen müssen.«
Plötzlich spürte Hector, wie er rot wurde. Konnte es sein, dass der alte François … Er führte schnell sein Weinglas an die Lippen.
»Das Erstaunliche an dieser Tragödie ist«, sagte Antoine, »dass sie allen Regeln der Dramaturgie zuwiderläuft.«
»Aber die Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung wird doch beachtet, oder?«, meinte Ophélie mäßig interessiert. »Und das sind doch die Regeln der Tragödie, nicht wahr?«
»Ja, natürlich …«, sagte Antoine, um Ophélie nicht widersprechen zu müssen. ( So halt doch dagegen, du Unglückseliger! , dachte Hector.) »Aber … aber Racine hat absichtlich auf jedes Spannungsmoment verzichtet. Wir wissen von Anfang an, dass Titus Bérénice verlassen muss und dass er es ihr verkünden wird. Nun ja, er verkündet es ihr, und sie gehen auseinander. Keine unerwartete Wende, nichts Unvorhergesehenes. Und trotzdem sind wir ergriffen.«
»Ja«, sagte der alte François, »denn es ist ein Spiel der Emotionen im Reinzustand, und das in einer Sprache, die immer noch zu uns dringt.«
»Im Grunde ist es ein Stück über einen verweigerten Neuanfang im Leben«, sagte Hector.
»Ganz genau!«, rief der alte François. »Titus lehnt es ab, ein neues Leben zu beginnen, er will seine Karriere nicht für die Liebe aufgeben. Er tut das Gegenteil von dem, was viel später Edward VIII . getan hat …«
Ophélie war dieser König aus dem letzten Jahrhundert offenbar ferner als Titus, der römische Kaiser.
»Ja, liebste Ophélie, der war König von England, als ich klein war. Er hat aus Liebe zu einer amerikanischen Abenteurerin abgedankt, die noch geschieden war.«
»Und auch nicht besonders treu«, ergänzte Hector.
»Aber ihre Ehe hat gehalten, mein Freund. Sie wissen ja, was Sacha Guitry dazu gesagt hat?«
»Zu dem Thema hat er so einiges gesagt.«
»Ja, aber hören Sie sich das bloß mal an: Die Ketten der Ehe sind manchmal so schwer, dass man sie nur zu dritt tragen kann.«
Ophélie und der alte François brachen in Gelächter aus. Hector und Antoine stimmten erst nach kurzem Zögern mit ein. Der sanfte Schein der Jugendstillampen ließ den Wein in den Gläsern funkeln; Antoine schaute Ophélie an, Ophélie schaute Hector an, Hector schaute den alten François an, und der alte François schaute sich auf einer Schiefertafel, die der Kellner gerade gebracht hatte, die Auswahl an Desserts an.
»Das ist der Moment, an dem ich anders als Titus meine Pflicht vergesse!«, sagte er.
Hector dachte, dass dies ein schöner Augenblick französischer Kultur war, wie man ihn sich im Ausland vorstellt: Rotwein, Gespräche, Jean Racine und dazu noch die Liebe … Und plötzlich besann er sich auf einen anderen Vers. In der letzten Szene sagte Bérénice zu Antiochus:
Ahmt Titus, ahmet mir im Lieben nach und Leiden:
Ich lieb ihn und ich scheid. Er liebt und lässt mich scheiden.
Wäre es nicht besser gewesen, wenn er von Ophélie geschieden wäre?
Aber nein, das ging jetzt nicht mehr, schließlich hatte er dem alten François versprochen, seiner Lieblingsenkelin zu helfen.
Und überhaupt war Hector sich ganz sicher: Die Bewunderung einer jungen Frau – in diese allzu klassische Falle würde er gewiss nicht tappen! Er würde niemals einen Schritt auf Ophélie zugehen, die zu alledem ja auch noch die Enkeltochter seines Freundes war.
Aber vor allem war ihm die Liebe zu Clara genauso wichtig, wie es Titus die Liebe zu Rom gewesen war.
Jenseits des Boulevard Périphérique
»Und seitdem ward er nicht mehr gesehen, Ihr Roger«, sagte Hectors Kollege.
Er trug Socken in seinen Campingsandalen, dazu eine Handwerkerhose mit jeder Menge Taschen, die seltsam ausgebeult waren, und ein graues Wollhemd von der Art, wie man sie in Versandhauskatalogen findet. Hier und da sah man Spuren von Zigarettenasche auf dem Stoff. Es war schwer zu sagen, ob er einen kurzen Bart trug oder in den letzten Tagen nur
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