Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
rauskriegen?«, sagte der andere und kam noch näher auf Hector zu und damit auch auf Ophélie.
»Nein, nichts über Sie. Bloß über die Ambulanz.«
Der andere grinste und zeigte damit, dass er dieses Ablenkungsmanöver von Hector durchschaut hatte. Sofort kam er wieder auf sein eigentliches Thema zurück.
»Auf jeden Fall ist deine Tusse echt geil«, sagte er. »Solche wie sie kriegen wir hier nicht oft zu sehen.« Und von Neuem näherte er sich Hector und Ophélie, während die beiden anderen ihm nicht von der Seite wichen.
»Lasst uns doch in Ruhe«, sagte Ophélie. »Wir haben jetzt keine Lust, uns zu unterhalten.«
»Genau«, meinte Hector, »dazu haben wir wirklich keine Lust.«
Von einem rauflustigen Freund hatte Hector erfahren, dass man den Gegner nie zu nahe herankommen lassen durfte, weil man sonst wehrlos war, wenn er plötzlich zuschlug.
»Ah, du willst wohl abhauen, was?«, sagte der andere. »Hast Schiss vor uns?«
Und schon wieder kamen sie näher.
Jetzt vermuten Sie vielleicht, dass Hector es dank seines wunderbaren Psychologenwissens bestimmt schaffen wird, diese halbstarken Früchtchen aus dem Konzept zu bringen, sodass sie am Ende wie vom Donner gerührt dastehen und sich Hector voll Bewunderung unterordnen. Aber dazu hatte er wohl nicht das richtige Lehrbuch gelesen, und ohnehin hatte er das unüberwindbare Handicap, als gut gekleideter Mittfünfziger mit einer hübschen Zwanzigjährigen auf dem Bahnsteig zu stehen.
Ein Fünfzigjähriger, der zwar einigermaßen in Form war – das musste den dreien klar sein –, aber andererseits auch ganz offensichtlich nicht die Gewohnheit hatte, sich zu prügeln.
Hector hätte ihnen beinahe gesagt, dass ihm all das leidtue, was dazu beigetragen hatte, dass sie sich heute auf dem Bahnsteig feindlich gegenüberstanden – dass er ein Weißer war, ein gebildeter und reicher Großstädter, und dass sie nicht so weiß aussahen, keinen Schulabschluss hatten und arbeitslos waren. Hector wäre sogar bereit gewesen, Bedauern über die Untaten des Kolonialismus zu zeigen, über das Scheitern des Bildungssystems, die ungezügelten Märkte, die Importe aus China, die Diskriminierungen bei der Einstellung und über die schlecht durchdachte Städteplanung, aber er spürte, dass es nicht viel bringen würde.
Er hörte das Rumpeln des nahenden Zuges, aber da griff der Anführer nach Ophélies Arm und sagte: »He, du, meine Hübsche, bleib bei uns!«
»Lass mich!«, sagte Ophélie.
Hector stieß den Anführer so heftig zurück, dass dieser ein paar Schritte nach hinten taumelte und gegen eine Mauer prallte. Während er wieder aufstand, zögerten die beiden anderen; sie warteten wohl auf einen Befehl vom Chef.
Hector sah, wie eine ältere Dame vom anderen Bahnsteig zu ihnen hinüberschaute und in ihr Handy sprach.
Der Zug fuhr ein, und Hector zog Ophélie in den Wagen, der angenehm voll war mit Leuten ganz verschiedener Herkunft; es waren auch ein paar Männer im vollen Saft darunter. Alle schauten erstaunt auf die beiden Zugestiegenen, aber Hector ließ die drei jungen Kerle, die jetzt ebenfalls zur offenen Tür gerannt kamen, nicht aus den Augen.
Deren Anführer hatte wohl begriffen, dass die Lage nicht mehr so günstig war (nicht umsonst war er Anführer geworden), also blieb er auf dem Bahnsteig vor der Wagentür stehen, während Hector mit gerunzelter Stirn den Zugang blockierte und seinen inneren Schalter auf »Kampf« umgestellt hatte.
Die Einstellung war richtig, aber seine Reflexe ließen noch zu wünschen übrig, denn gerade als Hector mit Erleichterung sah, dass die jungen Typen nicht mehr zusteigen würden, wurde ihm plötzlich auch bewusst, dass er seinen Gegner zu dicht an sich herankommen lassen hatte, und in dem Augenblick, wo die Tür langsam wieder zuging, ließ ihm der Anführer blitzschnell seine Faust aufs Auge sausen, jedenfalls merkte Hector, dass etwas gegen seine Braue prallte, aber da nahm der Vorortzug auch schon Fahrt auf, und der Anführer blieb höhnisch grinsend auf dem Bahnsteig zurück.
Hector spürte überhaupt keinen Schmerz, er war erleichtert und freute sich, dass er wieder zu Ophélie gehen konnte, und überhaupt brausten sie jetzt dem sicheren Hafen entgegen, seiner geliebten Stadt Paris! Ophélie aber blickte ihn beunruhigt an.
»Sie bluten ja!«, sagte sie.
Ach, er blutete? Er führte die Hand zum Gesicht, und tatsächlich blieb ein wenig verschmiertes Blut an ihr zurück. Es war nicht schlimm, nur die
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