Hector fängt ein neues Leben an: Roman (Hector Abenteuer) (German Edition)
Braue.
»Alles in Ordnung«, sagte er.
Er war so froh, Ophélie erfolgreich beschützt zu haben, dass er vor den Augen aller Passagiere fast einen Freudentanz aufgeführt hätte. Ophélies Blick aber, in dem sich ganz verschiedene Emotionen spiegelten, machte ihn wieder nüchtern.
Später dann, in Paris, wollte Ophélie, dass Hector ins Krankenhaus ging und sich die Augenbraue nähen ließ. Aber er sträubte sich gegen diese Idee, denn er kannte den Notdienst nur zu gut und wusste, wie man dort aufgenommen wurde, wenn man nicht wirklich ein Notfall war.
Er wusste auch, dass man die Ränder der kleinen Wunde mit einem Spezialpflaster zusammenschweißen konnte, das er in seiner Notfalltasche in der Praxis hatte, nicht weit von der Station, an der sie ankamen.
Hector ahnte nichts Böses, als er sich von Ophélie in die Praxis begleiten ließ und als sie ihm dabei zuschaute, wie er vor dem Spiegel die Wundränder aneinanderschob und vergeblich versuchte, das Pflaster drüberzukleben. Er ahnte noch immer nichts Böses, als er sich von ihr helfen ließ, und da war ihr Gesicht ganz nahe an seinem, ihr Blick in seinen Augen, ihr Mund ein wenig geöffnet …
Und da küsste Ophélie Hector, und er wehrte sich nicht.
Clara in New York
Als sie an jenem Morgen durch den Central Park ging, wo unter einer fahlen Sonne der Wind in den Ästen voller Blattknospen pfiff und ihr Joggerinnen entgegenkamen, die in einer solchen Topform waren, dass sie geradewegs von den Olympischen Spielen gerannt zu kommen schienen, wurde Clara bewusst, dass viele andere von so einem Arbeitsaufenthalt in New York träumten, und sie ärgerte sich ein wenig, dass sie hier nicht glücklicher war.
Dabei sagte sie sich mehrmals pro Tag: »Ist es nicht traumhaft – ich bin in New York!« Für Clara (und viele andere Leute auch) war New York gleich Manhattan, jene Insel mit dem indianischen Namen, die schon vor vier Jahrhunderten die ersten holländischen Seefahrer bezaubert hatte, als sie vor ihnen am Horizont aufgeschimmert war; später dann sollte sie Millionen Menschen aus aller Welt bezaubern, oft arme Schlucker, die von einer besseren Zukunft träumten, und schließlich Generationen von Schriftstellern und Künstlern – und vielleicht ja auch Sie.
Also war Clara trotz alledem glücklich, in New York zu sein. Aber sie spürte auch, dass dieses Glück ein paar fiese Leckstellen hatte, die den allgemeinen Glückspegel senkten.
Zunächst einmal war die Aufgabe hier nicht so interessant, wie Clara gedacht hatte. Es ging vor allem darum, neue Verfahren zu entwickeln, die man hinterher in allen Filialen des Konzerns einführen konnte, also auch zu Hause in Frankreich. Und zu diesem Zweck gab es jede Menge Versammlungen und noch mehr weitergeleitete E-Mails. Zum Glück war Clara von den Kollegen hier sehr freundlich aufgenommen worden; sie hatte verstanden, dass sie in deren Augen die Repräsentantin ihres Landes war und damit auch für den Charme und den Chic stand, um den die ganze Welt die Franzosen beneidet, und weil Clara zu alledem auch noch so tüchtig war, wie man es von einer Deutschen oder einer Koreanerin erwartet hätte, mochten die Amerikaner sie sehr.
(Wir sagen ›Amerikaner‹, aber eigentlich war es ja New York, und dementsprechend war von den Leuten, die sich zu den Beratungen zusammensetzten, jeder Zweite nicht auf dieser Seite des Atlantiks geboren; auch sie kamen aus verschiedenen Weltgegenden, obgleich sie alle die Redeweise und die Arbeitsmethoden übernommen hatten, die in einem großen internationalen Unternehmen mit Sitz in Amerika üblich sind.)
Und die andere Leckstelle in Claras Glück war natürlich Hector oder vielmehr Hectors Abwesenheit.
Clara hatte genau gemerkt, was in letzter Zeit mit Hector los gewesen war, selbst wenn sie es nicht so gut hätte erklären können wie der alte François, und natürlich beunruhigte es sie.
Zwischendurch blitzte immer wieder das Bild von Hector und Ophélie vor ihren Augen auf, wie die beiden nebeneinander die Rue de Vaugirard entlangspazierten und so glücklich aussahen. Ophélie lachte über etwas, das Hector gerade gesagt hatte.
Natürlich hatte Clara Angst, dass Hector sich von ihr entfernen könnte – nicht allein wegen dieser speziellen jungen Frau, sondern dass er überhaupt sein Glück woanders finden würde, wie es bei Männern manchmal der Fall ist, wenn sie mitten in der Midlife-Crisis stecken. Und oft landen sie tatsächlich bei einer Jüngeren, einer
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