Heidelberger Lügen
»Vermutlich gleich als er kam, noch bevor wir das Mikrofon installiert haben.«
Ich berichtete ihr von unseren nächtlichen Versuchen, anhand der Toilettengeräusche herauszufinden, ob die alte Frau bei Hörrle war.
Vangelis betrachtete mich sekundenlang mit einem Blick, als wäre ich übergeschnappt. Dann wandte sie sich schweigend den Tonbandgeräten zu. Spulte zurück, horchte, spulte vor und wieder zurück und vor.
»Sie lebt«, stellte sie nach einigen Minuten fest. »Die Idee war prima. Es ärgert mich, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin.«
Runkel und ich müssen sehr begriffsstutzig geguckt haben.
Vangelis lächelte und ließ das Band wieder zurückspulen. »Hören Sie hier.« Ich hörte, was ich immer hörte. »Und hier.« Ich hörte dasselbe.
»Für mich plätschert alles gleich. Wo ist da ein Unterschied?«
»Das Erste, das war Hörrle, das Zweite seine Tante.« Ein triumphierendes Lächeln spielte um ihren linken Mundwinkel.
»Woran wollen Sie das erkennen?«
»Ganz einfach. Sie klappt anschließend den Deckel herunter. Er nicht.«
Wir überprüften ihre Behauptung an verschiedenen Beispielen. Da jedes Ereignis im Haus protokolliert wurde, war es einfach, anhand der Listen die richtigen Stellen auf den Bändern zu finden. Vangelis hatte Recht. Anne Hörrle lebte. Immerhin ein Lichtblick.
»Es gibt Phasen, da ist es lange ganz still da drin«, sagte sie. »Mal eine halbe Stunde, mal auch länger. Ich vermute, dann schläft er. Aber die Zeiten sind völlig unregelmäßig, ohne jedes erkennbare System.«
»Der Kerl ist ein Fuchs«, brummte Runkel, der sich seit der letzten Nacht um keinen Millimeter bewegt zu haben schien.
Ich nahm die Brille ab und kratzte mich zwischen den Augen. »Was mir gar nicht gefällt: Hörrle weiß viel zu gut über unsere technischen Möglichkeiten Bescheid. Dass er diese winzige Kamera entdeckt hat zum Beispiel. Offenbar weiß er genau, wie wir in solchen Fällen vorgehen.«
Runkel nickte und gähnte gleichzeitig. Vangelis musterte ihn kurz wie ein ekliges Tier. Dann starrte sie wieder mit glasigem Blick auf einen Monitor, der das Haus aus einer neuen Perspektive zeigte. In der vergangenen Nacht hatte sie auf den Dächern der Nachbarhäuser weitere Kameras montieren lassen, erklärte sie mir. Der junge Techniker des LKA schien heute ein anderer zu sein. Wie sein Vorgänger hing er in der Ecke auf einem Stuhl und schlief mit halb offenem Mund. Aus den Lautsprechern drang Rauschen. Einmal ein Klimpern, als ob etwas Metallenes heruntergefallen wäre. Später ein Räuspern wie aus einer anderen, unendlich fernen, feindlichen Welt.
»Eines will mir nicht aus dem Kopf«, sagte Vangelis leise. Sie gab sich einen Ruck und sah mich an. »Was soll das Ganze? Hörrle weiß, dass er keine Chance hat. Warum versucht er nicht rauszukommen? Warum verlangt er kein Fluchtfahrzeug, kein Geld? Warum nimmt er nicht seine Tante als Schutzschild und sieht zu, dass er wegkommt?«
»Darüber habe ich auch schon lange nachgedacht. Ich vermute, er wartet auf irgendwas. Er verfolgt irgendeinen Plan.« Ich legte den Kopf in den Nacken, sah zur grau lackierten Decke, verschränkte die Hände im Genick. Die Schläfrigkeit in dieser Kiste steckte an. »Wir müssen ihn aus der Reserve locken. Wenn ich nur wüsste, wie.«
»Vielleicht hilft Ihnen das hier weiter?« Runkel hielt mir eine umfangreiche Akte hin. »Der Kollege Balke ist sehr fleißig gewesen.«
Dann weckte er Pumuckl und verließ den Kastenwagen, um ein wenig frische Luft zu schnappen.
»Wenn der nicht bald unter eine Dusche geht«, zischte Vangelis, »dann quittiere ich den Dienst! Fristlos! Man kann ja kaum noch atmen hier drin!«
In wortlosem Einverständnis ließen wir die Tür offen stehen. Mit dem Ordner suchte ich mir eine halbwegs bequeme Ecke und begann zu lesen.
Vitus Hörrle hatte nicht weit von hier, an der Carl-Bosch-Schule, ein nicht glänzendes, aber auch nicht schlechtes Abitur gemacht. Balke hatte sogar einen ehemaligen Klassenkameraden aufgetrieben. Der sagte aus, Hörrle habe sich schon als Schüler für Waffen interessiert und alles, was mit Krieg, Geheimdiensten und Abenteuer zu tun hatte. Schon damals war er durch sein ausgeprägtes und ein wenig eigenwilliges Gerechtigkeitsempfinden aufgefallen. Ein Mal hatte er zwei ältere Schüler ins Krankenhaus geprügelt, nur weil sie einen jüngeren gehänselt hatten. Ein anderes Mal hatte man ihm während des Unterrichts das Fahrrad gestohlen. Hörrle hatte
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