Heidelberger Lügen
will keine Toten. Lasst mich einfach nur in Ruhe.
Bei der Vorstellung, wie der verschreckte Fotograf samt seiner Ausrüstung nun selbst zum Opfer der Sensationsgier seiner Kollegen wurde, konnte ich mir ein schadenfrohes Grinsen nicht ganz verkneifen.
14
Für vierzehn Uhr hatte ich Frau Knorr zu mir bestellt. Ich hoffte, sie würde gesprächiger sein, wenn wir unter uns waren.
In Wieblingen gab es momentan nur eine sinnvolle Strategie: Abwarten. Die Journaille war gewarnt und blieb jetzt brav auf Distanz. Meine Leute waren für Hörrle weder zu sehen noch zu hören. Nun würde es sehr ruhig werden um ihn. Und, wie er in den nächsten Stunden feststellen würde, sehr, sehr einsam. Irgendwann, vielleicht in Tagen erst, würden Schreckensbilder vor seinem geistigen Auge auftauchen und ihn nicht mehr loslassen. Sicherlich hatte er schon mehr als einmal im Fernsehen die Stürmung eines Hauses miterlebt. Also wusste er, was ihm bevorstand. Irgendwann. Morgen, übermorgen, nächste Woche. Er wusste, dass wir mehr Zeit hatten als er, viel mehr Zeit. Er wusste, dass wir ihm überlegen waren, gleichgültig, wie viel Munition er hatte, wie gut er schießen konnte. All dies würde an ihm nagen, Zweifel säen, ihm den Schlaf rauben und den Appetit.
Irgendwann würde der Moment kommen, wo er einsah, dass nicht ich sein Feind war, sondern die Zeit. In einem Geiselnehmer spielen sich ähnliche Prozesse ab wie in seiner Geisel, die mit der Zeit dazu neigt, sich mit dem einzigen Menschen zu solidarisieren, den sie zu sehen bekommt – mit dem Geiselnehmer nämlich. An einem bestimmten Punkt würde Hörrle den Kontakt mit uns suchen, das Gespräch. Und dann hatten wir gewonnen. Dann war alles nur noch eine Frage der Zeit und Überredungskunst.
In der Kantine gab es wahlweise Schnitzel mit Bratkartoffeln oder Kohlrabiauflauf. So entschied ich mich für das Salatbüfett und suchte mir einen Tisch an der Wand, wo ich allein sein und nachdenken konnte. In den letzten Stunden war ich einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Nun war klar, dass zwischen den Morden an McFerrin und Kriegel ein Zusammenhang bestand. Und da die einzige Verbindung zwischen den beiden ihre Arbeit war, musste hier das Motiv zu finden sein.
Balkes Theorie, McFerrin wäre durch reinen Zufall zum Mordopfer geworden, weil Hörrle dringend ein Auto brauchte, war nun hinfällig. Kurz erwog ich die Möglichkeit, McFerrin könnte Hörrle nicht zufällig über den Weg gelaufen sein. Hatte Hörrle vielleicht in irgendjemandes Auftrag gehandelt und auch Kriegel auf dem Gewissen? Aber nein. Als Kriegel starb, saß Hörrle schon hinter Gittern und wartete auf seinen Prozess.
Im Büro zurück, wählte ich als Erstes Theresas Handynummer, um noch einmal über das drohende Abendessen mit ihrem Mann zu sprechen. Wir mussten das auf irgendeine Weise abbiegen. Leider war mir noch immer kein plausibler Grund eingefallen, warum ich meinen Vorgesetzten und seine Gattin nicht privat treffen wollte. Theresas Voicebox teilte mir mit, ihre Herrin sei nicht zu sprechen. Dafür meldete sich kurze Zeit später Lorenzo.
»Haben Sie heute Abend schon etwas vor? Ich habe etwas, was Sie sehr interessieren dürfte.«
Froh, seine vertraute Stimme zu hören, lehnte ich mich zurück.
»Was ist es denn, womit Sie mich diesmal von meinen guten Vorsätzen abbringen wollen?«
»Sagen wir, um sieben?«
»Im Prinzip gerne«, erwiderte ich seufzend. »Aber meine Kinder, dieser Irre in Wieblingen. Ich weiß wirklich nicht …«
»Maria wird uns Gesellschaft leisten. Sie hat heute Abend frei.«
Unschlüssig sah ich auf die Uhr. Gleich würde Frau Knorr erscheinen, die ehemalige Chefsekretärin der Analytech. Anschließend blieb mir noch mehr als genug Zeit, mich in Wieblingen blicken zu lassen. Schließlich willigte ich mit gemischten Gefühlen ein. Auch ein Vater, auch ein Kripoleiter hat ein Recht auf Entspannung. Und gerade die hatte ich zurzeit nötig.
Da ich den Hörer schon in der Hand hielt, drückte ich die Taste, hinter der sich meine Privatnummer verbarg. Es wurde fast sofort abgenommen.
»Sarah Gerlach?«
Meine Älteste war hörbar enttäuscht, dass nur ihr Vater es war, der anrief.
»Habt ihr heute Abend was vor?«, fragte ich scheinheilig.
»Nein«, kam es mürrisch zurück.
»Das heißt, ihr bleibt zu Hause?«
»Ja.«
»Habt ihr zu essen? Ich komme vielleicht ein bisschen später.«
»Kein Problem.«
»Was ist los?«
»Nichts.«
»Bei euch stimmt doch irgendwas nicht.
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