Heidelberger Lügen
suchte eine bequemere Haltung auf seinem Stuhl. Mit zufrieden schmatzenden Geräuschen schlief er wieder ein. Es fiel mir schwer, mich auf meine Akte zu konzentrieren.
Auf einem Foto, das sich zwischen den Blättern befand, wirkte Frau Hörrle bitter und zynisch, vom Leben enttäuscht. Vielleicht war es gerade Hörrles latente Gewalttätigkeit gewesen, seine Entschlossenheit und massive Körperlichkeit, die sie zu ihm hingezogen hatte. Vielleicht hatte er Wind in ihr Leben gebracht, Aufregung, Bewegung.
Hin und wieder schien Hörrle ein wenig eigenes Geld verdient zu haben. Vielleicht, um nicht zu sehr von seiner Frau abhängig zu sein. Nachbarn sagten aus, er habe Fernsehgeräte und Radios repariert. Vermutlich hatte er sich während seiner Bundeswehrzeit die dazu notwendigen Kenntnisse angeeignet.
Gelegentlich habe es auch Streit gegeben bei den Hörrles, las ich, unter anderem sei es dabei wohl um Geld gegangen. Die Frau war als geizig bekannt, und manchmal sei es recht laut zugegangen in der Villa Beerbaum. Gar nicht selten habe man den Herrn Hörrle am späten Vormittag mit zerknirschter Miene und einem Blumenstrauß an seiner eigenen Tür läuten gesehen. Im Großen und Ganzen schien es in der Villa am Hang zwar ruppig, aber doch halbwegs ordentlich zugegangen zu sein. Zumindest nicht unordentlicher als in vielen anderen Häusern auch.
Bis zu jener Nacht, in der Vitus Hörrle zum Mörder wurde.
Vangelis kam zurück. Sie wirkte erfrischt, ihr Blick war wieder wach. Pumuckl rollte sich erschöpft unter dem Tisch zusammen und schlief sofort ein. Runkel schrak hoch und räumte verlegen den Stuhl vor der Technik.
»Warum fahren Sie nicht mal nach Hause und schlafen eine Runde?«, fragte ich ihn freundlich. »Hier ist doch sowieso nichts los.«
»Och.« Er sah zu Boden. »Ist schon okay so. Geht schon.«
Ich war sicher, es gab einen anderen Grund für seinen Diensteifer als Pflichtbewusstsein. Einen privaten Grund. Aber der ging mich natürlich nichts an. Ob die Buchhandlung, deren Toilette wir benutzen durften, vielleicht auch über eine Dusche verfügte? Aber wie konnte ich Runkel dort hin bekommen, ohne ihn zu beleidigen?
Obwohl es langsam kalt wurde, ließen wir die Tür weiter offen. Die Medien schienen inzwischen das Interesse an unserer Geiselnahme verloren zu haben.
Klara Vangelis strich sich das lockige schwarze Haar aus dem Gesicht, reckte die Arme über den Kopf und schenkte mir zu meiner Überraschung ein Lächeln. Als ich es endlich erwiderte, sah sie schon wieder auf die Monitore.
Das Vermögen der Ermordeten würde nach Hörrles Verurteilung an ihren einzigen Verwandten fallen, einen zwei Jahre jüngeren Bruder. Mörder sind nicht erbberechtigt.
Zwei psychologische Gutachten stimmten darin überein, dass Hörrle überdurchschnittlich intelligent sei. Dafür mangele es ihm massiv an sozialer Kompetenz. Seine Vorstellungen von Recht und Moral seien einfach strukturiert, sein Gerechtigkeitsempfinden extrem ausgeprägt, las ich. Beide Gutachter hielten ihn für unbeschränkt schuldfähig. Trotz seines von mehreren Stammtischbrüdern beglaubigten Alkoholpegels musste Hörrle gewusst haben, was er tat, als er seiner Isolde das Genick brach.
Er selbst bestritt die Tat von Beginn an. Lange nach Mitternacht sei er erst nach Hause gekommen, wie so oft habe die Frau vor laufendem Fernseher auf dem Sofa gelegen und geschlafen, und er sei dann unverzüglich, und ohne sich weiter um sie zu kümmern, zu Bett gegangen. Erst am nächsten Morgen habe er festgestellt, dass sie tot war. Da habe er die Nerven verloren und das Weite gesucht.
Auf die Frage, wer sonst seine Frau ermordet haben könnte, wenn nicht er, hatte Hörrle nur die Schultern gezuckt. Es gab keine Hinweise auf einen Dritten am Tatort, keinerlei Spuren, die Hörrles Behauptung gestützt hätten. Niemand hatte in der Tatnacht etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört. Nur dass Hörrle zur angegebenen Zeit abwechselnd singend und fluchend zur Villa hinaufgestiegen sei, konnte ein Nachbar bestätigen.
Einen Satz, der mir gar nicht gefiel, hatte Hörrle im Zuge der ebenso langen wie erfolglosen Verhöre mehrfach geäußert:
»Einlochen lass ich mich nicht. Wenn’s hart auf hart kommt, dann mach ich den Abgang. Aber so, dass es hinterher auf der ersten Seite der Zeitung steht.«
Sollte das, was er plante, etwa dieser spektakuläre Selbstmord sein? Mir wurde mulmig bei diesem Gedanken. Jemand, der Forderungen stellt, muss verhandeln, den
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