Heidelberger Lügen
sich jedoch nicht an die Lehrer gewandt, sondern den Übeltäter auf eigene Faust ermittelt und fast umgebracht. Vielleicht rührte sein fehlendes Vertrauen in Behörden aus seinen frühen Erfahrungen mit den Ämtern, mit denen er als Kind zu tun hatte. Zwei Mal war er nur knapp einem Schulverweis entkommen. Ein Mal war er verwarnt worden, weil er eine Flasche Wodka mit in den Unterricht gebracht und diese im Lauf des Vormittags geleert hatte.
Nach dem Abitur hatte Hörrle sich bei der Bundeswehr als Berufssoldat verpflichtet. Soldat schien schon früh sein Traumberuf gewesen zu sein. Erste Station war eine Panzerkompanie in Cham, im Bayerischen Wald. Dort hatte er sich zunächst gut gehalten. Nur drei Mal hatte es nach Aussage seines ehemaligen Kompaniechefs erwähnenswerten Ärger mit Hörrle gegeben. Aus unbekannten Gründen hatte er einen Unteroffizier so schwer verprügelt, dass dieser für mehrere Wochen heimkrank geschrieben werden musste, mehrfach hatte er begriffsstutzige Rekruten in den Hintern getreten, einmal im Vollrausch kräftig mitgeholfen, das Mobiliar des Offizierskasinos in handliche Teile zu zerlegen. Nach den Maßstäben des Majors, mit dem Balke telefoniert hatte, war dieses Verhalten bei unserer Armee keine Ausnahme.
Nach vier Jahren gab es eine überraschende Wendung in Hörrles Karriere. Angeblich aus gesundheitlichen Gründen wurde er für eine sitzende Tätigkeit bei der Fernmeldetruppe umgeschult. Zu diesem Zweck wurde er nach Regensburg versetzt. Er hatte verschiedene Lehrgänge besucht, Balke hatte sie säuberlich aufgelistet, und in dieser Zeit schien Vitus Hörrle zur Ruhe gekommen zu sein. Es gab keine Einträge mehr in der Personalakte, er hatte geheiratet und sich ein Reihenhäuschen in einem Vorort namens Sinzing gekauft. Über die Ehe war nichts zu lesen. Nicht einmal der Name der Frau wurde erwähnt.
Später, in der Zeit vor dem zweiten Irak-Krieg, hatte Hörrle einige Zeit im Auftrag der NATO auf einer Horchstation in Apulien Dienst getan. Von nun an gab es große Lücken in Balkes Dossier. Was unsere Armee im Ausland treibt, soll natürlich nicht jeder in aller Genauigkeit wissen. Vor knapp zwei Jahren war Hörrle plötzlich nach Regensburg zurückgekehrt und schon wenige Wochen später aus der Bundeswehr ausgeschieden.
Ob er wirklich dieser hübschen Libanesin zu nahe gekommen war, wie Balke spekuliert hatte, war nicht bewiesen. Die Vermutung lag jedoch nahe, dass er sich etwas hatte zu Schulden kommen lassen, wovon die Öffentlichkeit nichts erfahren sollte. Bundeswehrangehörige, die sich bei Auslandseinsätzen danebenbenehmen, sind Dynamit für das Verteidigungsministerium. Hörrle hatte eine seiner Dienstzeit entsprechende Abfindung erhalten und sich vermutlich zu Stillschweigen verpflichten müssen.
Schnaufend kletterte Runkel wieder in unseren Kastenwagen, und Vangelis übergab ihm die Kontrolle über die Geräte mit der Bemerkung: »Noch fünf Minuten hier drin, und ich laufe Amok.«
Die Tür ließen wir weiter offen stehen, obwohl die Gefahr bestand, dass demnächst Fernsehkameras davor standen, die den Heidelberger Kripochef beim Aktenstudium filmten.
Nach dem abrupten Ende seiner bescheidenen Soldatenkarriere fand Hörrle keine Arbeit. Schon nach wenigen Monaten zerbrach seine Ehe, die kinderlos geblieben war, und das Haus in Sinzing wurde verkauft. Zwischen den Zeilen war zu lesen, dass bei all dem größere Mengen Alkohol eine Rolle spielten. Dann geschah etwas Unerwartetes.
Nach einer Lücke von sechs Monaten tauchte sein Name plötzlich im Melderegister von Lauffen am Neckar auf, einem Ort bei Heilbronn, nahe auch seinem Geburtsort. Hier schien er sein Glück gefunden zu haben in Form einer zwölf Jahre älteren Frau, Isolde Beerbaum. Bereits vier Wochen später wurde geheiratet, und man wohnte zusammen in einer geräumigen Villa oberhalb des Orts. Isolde Beerbaum brachte ein beträchtliches Vermögen mit in die Ehe. Sie und Hörrle waren vermutlich eines jener Paare, deren Umgebung niemals aufhören wird sich zu wundern, wie die beiden es miteinander aushalten, was um Himmels willen sie aneinander finden. Isolde Hörrle, eine gebildete und kunstsinnige Frau, entstammte einer Familie, die über die Jahrhunderte durch Weinbau reich geworden war. Eine große Gemeinsamkeit schienen die beiden immerhin zu haben: ihre Liebe zum Alkohol.
Runkels Kopf sank vornüber, er begann leise zu schnarchen. Ich ließ ihn schlafen. Der Techniker wurde kurz unruhig und
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