Heidelberger Requiem
ging pfeifend, als hätte sie sich körperlich verausgabt.
Ich räusperte mich verlegen. »Frau Gardener, bitte, Sie tun Ihrem Sohn wirklich keinen Gefallen, wenn Sie solche Sachen machen«, sagte ich leise. »Im Gegenteil, Sie helfen ihm, indem Sie mir helfen. Je eher ich ihn finde, desto besser ist es für ihn. Anscheinend hält er sich versteckt, aber damit macht er sich doch nur verdächtig.«
Unvermittelt begann sie zu beten: »Heilige Maria voll der Gnaden …« Sie wurde mit jedem Satz lauter und schriller. Ich steckte den Stecker wieder ein und ging.
»Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes!«, schrie sie gegen die brüllenden Stimmen aus dem Fernseher an.
Aufatmend zog ich die Haustür hinter mir ins Schloss.
»Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes!«
Mit schwirrendem Kopf blieb ich auf der Straße stehen. Links von mir endete die Schützenstraße nach wenigen Metern an einer grünen Schallschutzwand, hinter der der Verkehr über die A 5 brauste, und vor mir befand sich ein Kleingartengelände. Es roch nach Autoabgasen und Torf oder Blumenerde. Der Wind hatte aufgefrischt und ließ Staubwirbel über die Straße tanzen.
Im Fenster eines Nachbarhauses hing ein rundköpfiger Frührentner und grinste mich verschmitzt an.
»Sind Sie vom Amt?«, fragte er, als ich vorbeiging.
Ich blieb stehen. Auch hier hörte man noch Helen Gardeners Geschrei und den Fernseher.
»Kommt sie jetzt endlich in die Anstalt?«
»Ich … Ich weiß noch nicht«, antwortete ich vorsichtig.
»Ist ja nicht mehr auszuhalten mit der. Wenn sie den Jungen nicht hätte, sag ich immer …«
»Was ist mit dem Jungen? Wir suchen ihn.«
»Der wohnt jetzt woanders. Seit zwei, drei Jahren schon. Kommt aber oft her. Am frühen Abend meistens. Bringt ihr Essen, schafft den Müll raus. Die würde ja krepieren in dem Dreck, wenn sich keiner um sie kümmern würde. Dabei sieht der gar nicht so aus, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber ich sag immer, man soll den Menschen nicht nur nach seinem Äußeren beurteilen. Sie macht ja schon lange nichts mehr. Guckt fern und raucht und betet. Wenn die ihren Jungen nicht hätte, sag ich immer, dann wär die schon lange verhungert. Oder in der Anstalt. Kommt sie denn jetzt in die Anstalt?«
Ich dachte an das Foto. »Gibt es eigentlich einen zweiten Sohn?«, fragte ich auf gut Glück.
»Will? Der ist tot. Schon lange tot.«
»Was ist passiert?«
»Wie’s halt so geht. Mit dem Rad sind sie unterwegs gewesen, die Jungs, und da ist er unter einen Lastwagen gekommen. Keiner hat was dafür gekonnt. Danach ist sie verrückt geworden. Sie können sich nicht vorstellen, was das hier manchmal für ein Radau ist. Tag und Nacht dieser Fernseher, und dann schreit sie wieder und betet. Ein Ave Maria nach dem anderen, eins nach dem anderen. Meine Olga, als die noch gelebt hat, die hat immer gesagt, die arme Frau Gardener muss mal wieder ihre Gespenster vertreiben.«
»Dieser andere Sohn …«
»William. Zwei Jahre jünger als der Fitz ist er gewesen. Alle haben ihn nur Will genannt. Das ist passiert, da haben die noch kein Jahr hier gewohnt. Regelrecht verrückt ist sie geworden nach dieser Geschichte. War arbeiten an dem Tag. Was blieb ihr übrig, nicht wahr, man kann ihr keinen Vorwurf machen. Und die Jungs sind dann nachmittags halt allein gewesen. Hätte auch so passieren können. Auch wenn sie daheim gewesen wäre. Passiert doch immer mal was, sag ich immer.«
Ich dachte an meine Mädchen, die jetzt alleine zu Hause saßen. Oder auch nicht. Hatten sie nicht etwas von einer geplanten Radtour erzählt? Oder war das gestern gewesen?
Ohne zu fragen, erfuhr ich, dass Frau Gardeners Mann sich damals ohne ihr Wissen hatte in die USA versetzen lassen und eines Tages einfach nicht mehr nach Hause gekommen war. Erst nach zahllosen Telefonaten hatte sie schließlich herausgefunden, dass sie von einem Tag auf den anderen allein erziehende Mutter zweier Söhne war.
»Ist dann später hier rausgezogen mit den Jungs. Ist natürlich schon billiger hier als in Neuenheim drüben. Geld sieht die ja wohl keines von ihrem Mann, vermute ich mal. Ich sag ja immer, diese Amis …«
»Wovon lebt sie dann?«
»Sag ich doch, früher hat sie gearbeitet, und jetzt versorgt sie ihr Fitz. Bringt ihr Essen und Zigaretten und so. Sie braucht ja nicht viel. Das Haus ist bezahlt, und was braucht ein Mensch sonst schon, wenn er zu essen hat.«
Auf der Rückfahrt versuchte ich, meine Töchter anzurufen. Sie
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