Heidelberger Requiem
identifizierte, den sie ständig durch die Finger gleiten ließ.
»Sie verachten mich, weil ich fett bin, stimmt’s?«
»Ich verachte niemanden, Frau Gardener.« Sie grinste schief. »Natürlich tun Sie’s. Alle tun’s. Früher, da war ich anders. Ganz anders.« Ohne den Blick vom Fernseher zu wenden, wies sie auf ein Foto an der Wand, das einen breit grinsenden Hünen in Ausgehuniform neben einer strahlenden Frau zeigte, die vor Glück und Lebenslust schön war.
»Frau Gardener, es geht um Ihren Sohn Fitzgerald.«
»Sie brauchen sich nichts drauf einzubilden, dass Sie schlank sind. Es sind die Gene, ich hab’s gelesen. Man kann nichts machen. Gar nichts. Keiner kann was machen.«
»Könnten wir den Fernseher vielleicht kurz ein wenig leiser …?«
»Was ist mit Fitz?« Ihre Stimme klang gehetzt, als wollte sie das Unvermeidliche nun so rasch wie möglich hinter sich bringen. »Was wollen Sie von Fitz?«
»Wir brauchen ihn als Zeugen«, log ich. »Und Sie würden mir sehr helfen …«
»Von der Polizei sind Sie?«, fiel sie mir ins Wort.
»Ja.«
»Fitz ist ein guter Junge. Ein guter Junge ist er.«
»Das glaube ich Ihnen gerne, Frau Gardener …«
»Geht’s um das Söhnchen von unserem berühmten Professor?«, fragte sie gehässig. »Geht’s darum?«
»Ja.«
»Wundert mich kein bisschen, dass das so gekommen ist. Das musste irgendwann so kommen.«
»Warum sagen Sie das?«
Ihre Stimme wurde schrill. »Der Herr straft uns für unsere Sünden! Wir sündigen, und der Herr straft uns! So ist das Gesetz! Manchmal dauert’s kürzer, manchmal länger. Aber irgendwann, irgendwann kommt die Strafe über uns, grausam über uns! Der Herr vergisst nicht! Niemals!«
Der Rosenkranz bewegte sich unaufhaltsam im Kreis.
»Frau Gardener …«
»Was?«, fragte sie herrisch. »Was denn noch? Fitz hat nichts damit zu tun. Gar nichts.«
»Sie haben Patrick Grotheer gekannt?«
Angeekelt schüttelte sie den Kopf. »Früher. Will nichts mehr zu tun haben mit diesen Leuten.«
Auf einem Sekretär entdeckte ich ein gerahmtes Foto zweier Knaben in Badehosen. Der eine mochte zehn sein, der andere zwölf. Im Hintergrund war ein See zu erkennen. Offenbar war Sommer gewesen, als das Bild aufgenommen wurde. Ferienzeit.
»Sind sie das? Fitz und Patrick?«, fragte ich.
Ohne hinzusehen schüttelte sie hastig den Kopf. Ihr Mund wurde zum Strich.
»Wer sind die zwei dann, dort auf dem Foto?«
Sie riss nur kurz die Augen auf und machte eine hastige Handbewegung. Die Frage schien sie geradezu in Panik zu versetzen.
Ich atmete einige Male tief durch, um nicht die Beherrschung zu verlieren.
»Frau Gardener, bitte! Sagen Sie mir jetzt bitte, wo ich Fitz finde. Dann sind Sie mich los.«
»Fitz ist vierundzwanzig.«
»Das ist mir bekannt.« Ich sah mich um, ob ich vielleicht ein aktuelles Foto von Fitzgerald entdeckte. Aber es schien keines zu geben. Sie zu bitten, mir sein Zimmer zu zeigen, war vermutlich sinnlos.
»Was fragen Sie mich dann? Der kommt und geht, wie’s ihm passt. Der ist alt genug, der weiß, was er tut.«
»Und Sie können mir nicht vielleicht sagen, wo er sich derzeit aufhält?«
Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie ein lästiges Insekt verscheuchen. Die gedemütigte Frau im Fernseher fing unvermittelt an zu schreien wie ein Tier und versuchte, dem Mann das Gesicht zu zerkratzen. Frau Gardener lächelte zufrieden.
»Frau Gardener, ich möchte nur mit ihm sprechen, weiter nichts. Er hat nichts zu befürchten.«
Sie tat, als wäre ich nicht da.
Ich beschloss, energischer zu werden. »Wenn Sie partout wollen, dann kann ich auch anders!« Ich war mir nicht sicher, ob sie mich überhaupt hörte.
»Verstehen Sie nicht? Ich kann Sie ebenso gut vorladen lassen, wenn Sie sich weigern …«
Im Grunde hätte sie nur zu sagen brauchen, dass sie die Aussage verweigerte. Ich konnte sie nicht zwingen, zum Nachteil ihres Sohnes auszusagen. Stattdessen packte sie die Fernbedienung und stellte den Fernseher lauter.
»Hätten Sie wenigstens ein neueres Foto von Fitz?«, fragte ich längst ohne Hoffnung.
Ihr fetter, vor Kraftanstrengung zitternder Finger blieb auf dem Knopf der Fernbedienung. Die Lautstärke wurde unerträglich.
»Hören Sie doch endlich auf mit dem Unsinn!«, rief ich.
Ihre Augen waren weit und starr auf den Bildschirm gerichtet. Schließlich bückte ich mich und zog den Stecker aus der Wand. Sie glotzte noch eine Sekunde geradeaus, dann sank sie zurück und blickte in ihren Schoß. Ihr Atem
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