Heidelberger Wut
Mir gellt immer noch manchmal das Gekreische dieses durchgeknallten Flittchens in den Ohren. Wie die mit ihrer Knarre rumgefuchtelt hat, Sie machen sich keine Vorstellung. Und nein, ich habe kein Mitleid mit dem Pack. Ich bin auch nur ein Mensch.«
»Würden Sie auch so denken, wenn Ihr Sohn beteiligt wäre?« Mein Ton war schärfer als gewollt.
Braun holte tief Luft. Und dann legte er los.
»Selbstverständlich würde ich das! Wer Mist baut, muss die Rechnung bezahlen. So ist das nun mal im Leben. Aber ich kann Sie in diesem Punkt beruhigen – mein Sohn würde so etwas niemals tun. Der hat nämlich eine ordentliche Erziehung genossen. Unser David hat früh gelernt, Gut und Böse zu unterscheiden.«
Das Letzte hatte fast wie eine Drohung geklungen. Eine Weile schwiegen wir uns betreten an. Dann sah Braun über mich hinweg ins Nirgendwo.
»Bitte verstehen Sie, vor allem Rebecca leidet immer noch sehr an diesem Drama«, sagte er leise. »Sie ist so sensibel. Ich hoffe, sie kommt irgendwann über alles hinweg. Diese anderthalb Stunden haben sie völlig verändert. Sie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.«
»Sie haben Recht«, gab ich zu. »Es ist leicht, Verständnis zu haben, wenn man nicht betroffen ist. In Ihrer Situation würde ich vermutlich ähnlich reagieren.«
»Warum eigentlich bloß die Hälfte?«, fragte er mit plötzlich wieder ruhiger Stimme. »Wo ist der Rest von dem Geld?«
»Wir sind jetzt mehr denn je davon überzeugt, dass es einen dritten Täter geben muss. Den Ideengeber und Manager. Das erklärt die Verteilung: Fünfzig Prozent für den Chef, die andere Hälfte fürs Fußvolk. Und die Hinweise darauf, dass dieser Dritte Ihr verschwundener Nachbar ist, verdichten sich.« Ich sah Braun ins Gesicht. »Haben Sie noch mal darüber nachgedacht? Halten Sie es für möglich, dass Seligmann die treibende Kraft im Hintergrund war?«
»Darf ich Ihnen was anbieten? Wir können alles: Espresso, Cappuccino, Latte Machiato …«
Ich winkte ab. Mein Herz klopfte ohnehin schon vom vielen Kaffee am Morgen.
Braun faltete die Hände auf dem Tisch und sah mir fast ein wenig resigniert in die Augen. »Ja, ich habe darüber nachgedacht. Und ja, ich halte es für sehr gut möglich. Je länger ich überlege, desto logischer erscheint mir Ihre Erklärung. Der Bursche hat alle Zeit und Gelegenheit gehabt, über unser Leben Buch zu führen. Manchmal habe ich beobachtet, wie sich drüben die Gardine bewegte, wenn ich vor die Tür trat. Ich hätte dem Trottel so was zwar nie im Leben zugetraut, aber man täuscht sich eben hin und wieder in Menschen.«
»Warum mögen Sie ihn eigentlich nicht? Nun ist er nicht mehr Ihr Kunde. Sie können also frei sprechen.«
»Ganz einfach«, erwiderte Braun mit gepresster Stimme. »Weil er einer von diesen unzähligen Schmarotzern ist, die systematisch unser Land ruinieren.« Er fixierte mich, als wäre ich Seligmanns Komplize. »Der Mann war Lehrer, und das ist doch weiß Gott kein Beruf, in dem man sich zu Tode arbeitet. Ich habe ja oft genug gesehen, wie munter der in seinem Garten gewerkelt hat, obwohl er offiziell zu krank war zum Arbeiten. Früher natürlich, bevor er alles hat verkommen lassen. In den letzten zwei Jahren hat man ihn ja dann kaum noch draußen gesehen.« Braun zog eine angewiderte Grimasse. »Können Sie mir verraten, warum so einer in Pension geht, noch bevor er fünfzig ist? Und jetzt faul von unseren Steuern lebt? Von meinem und übrigens auch Ihrem Geld?«
Er sprang auf und begann, mit den Händen auf dem Rücken auf und ab zu gehen. »Seligmann ist einer von diesen unzähligen Faulpelzen, die an Schülerallergie leiden oder an Burn-out-Syndrom oder irgendeinem anderen Schwachsinn. Gucken Sie doch in die Zeitung! Millionen gibt es inzwischen in unserem Land, die es sich bequem machen in der großen Hängematte und sich von uns versorgen lassen. Wissen Sie, was ich denke?«
Abrupt blieb er stehen, starrte mich an. »Hätte der Kerl hin und wieder ein bisschen Sport getrieben und nicht nur sein widerliches Viehzeug gehätschelt, er könnte noch zehn Jahre arbeiten und müsste uns nicht auf der Tasche liegen!«
»Und das ist der Grund, warum Sie ihn nicht leiden können?«
»Demnächst sind wir so weit, dass jeder von uns, der sich noch nicht zu fein ist für ehrliche Arbeit, einen von diesen … Lebenskünstlern durchfüttern muss. Unsereins bezahlt brav seine Steuern, hält sich an Gesetze, erzieht seine Kinder zu Ordnung und Anstand und darf dabei
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