Heidelberger Wut
feuchten Kehricht an, da haben Sie Recht.« Er schwieg einige Sekunden und zupfte an der schon ein wenig speckigen Manschette seines fast weißen Hemdes herum. »Sind immerhin schon einige Jährchen ins Land gegangen, seit unser Seligmann in Pension ging. Ich war damals ganz frisch auf meinem Posten. Deshalb kann ich Ihnen leider nicht viel über ihn erzählen.«
»Gibt es Kollegen, die mehr über ihn wissen?«
Schnellinger ließ von seiner Manschette ab und fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung durchs schüttere und reichlich verschwitzte Haar.
»Natürlich, klar gibt es die. Ich kann Ihnen nachher ein paar Namen aufschreiben. Aber was möchten Sie nun von mir hören? Ob er geklaut hat? Hat er meines Wissens nie. Ob er Schülerinnen unter den Rock gefasst hat? Nein, hat er auch nicht.«
»Ich möchte mir einfach nur ein Bild machen von dem Mann. Deshalb sitze ich hier und stehle Ihnen die Zeit.«
»Das wird Ihnen helfen, ihn wiederzufinden?«
»Wohl kaum.«
»Dann steckt also noch mehr dahinter?«
»Möglicherweise. Aber ich darf und möchte …«
»Natürlich, natürlich.« Schnellinger sah zum Fenster hinaus. »Geht mich immer noch nichts an, schon verstanden.«
Wieder liefen draußen eilige Füße den Flur entlang. Diesmal schwerere. Der Hausmeister vielleicht oder ein Lehrer auf dem Weg zu seiner Klasse, die mit Nachmittagsunterricht geplagt war. Ob es heute noch die Strafe des Nachsitzens gab? Meine Töchter mussten nie nachsitzen. Zumindest erfuhr ich nichts davon. Ob ihnen das norddeutsche Essen inzwischen besser schmeckte? Was wohl Sarahs Zahnschmerzen machten? Unwillkürlich musste ich gähnen. Ein alter Reflex aus Jugendzeiten – Schulluft machte mich immer noch müde.
»Seligmann«, sagte der Direktor nachdenklich und betrachtete dabei ratlos die flache Hand, die eben noch sein dünnes Haar gebändigt hatte, »war schon ein merkwürdiger Geselle.«
»Inwiefern?«
»Ein Autist in gewisser Weise. Hatte nicht viele Freunde im Kollegium. Der war sich selbst genug. Hat seine Arbeit gemacht, und der Rest hat ihn nicht interessiert. Pünktlich war er, unser Seligmann, pünktlich und gewissenhaft, da gab es nichts. Aber in den Pausen, da saß er immer für sich.«
»Wie war sein Verhältnis zu den Schülern?«
»Bestens. Die Kinder haben ihn gemocht. Das war eigentlich seltsam, denn er war nicht besonders witzig, hat sich nicht angebiedert, konnte auch mal streng sein. Ich habe es mir folgendermaßen erklärt: Sie sahen in ihm eine Art Verbündeten. Gegen die Schule, gegen uns andere, normale Lehrer.«
Für einige Sekunden schwieg Oberstudiendirektor Schnellinger und sah wieder hinaus auf die Bäume mit dem frischen Grün, die sich im leichten Nachmittagswind des Frühsommertages wiegten. Dann fuhr er fort:
»Als ich hier mein Amt antrat, da habe ich reihum bei allen Kollegen hospitiert. Um mir ein Bild zu machen, meine Truppen kennen zu lernen, ihren Stil. Und Seligmann, was soll ich sagen, er war ein Phänomen. Ich habe selten erlebt, dass eine Klasse einem Lehrer so aus der Hand frisst. Er war, man kann es nicht anders ausdrücken, als Pädagoge ein Naturtalent. Ich habe versucht herauszufinden, wie er das anstellt. Es ist mir nicht gelungen. Er hat seine Schüler ernst genommen, vielleicht ist es das. Als Persönlichkeiten, jeden Einzelnen. Und dann diese merkwürdige Ruhe, die er ausstrahlte. Sie hatten Respekt vor ihm, ja, richtigen, ehrlichen Respekt. Das findet man leider selten heutzutage. Seine Ergebnisse waren vorbildlich. Bei ihm gab es keinen einzigen Schüler, der nicht mitkam, absackte, verloren ging. Er hat sich um jeden Einzelnen gekümmert. Ohne viele Worte, ohne Getöse. Er hat’s einfach getan, weil es zu seinem Job gehörte. Wirklich schade, dass er dann so bald krank werden musste.«
»Dürfen Sie mir sagen, woran er erkrankt ist?«
»Die Seele.« Er blickte mir ins Gesicht, ohne mich zu sehen. »Er hatte einen schweren psychischen Zusammenbruch, von dem er sich leider nie wieder erholt hat. Dann fing er auch noch mit dieser Trinkerei an und … Nun ja.«
»Was ich Sie jetzt frage, dürfen Sie bitte nicht missverstehen.«
Schnellinger musterte mich mit dem friedlichen Blick eines Pädagogen, der seinem Schüler Mut machen will, mit der Wahrheit herauszurücken, auch wenn sie wehtut.
»Halten Sie Herrn Seligmann für fähig, ein Verbrechen zu begehen? Ein schweres Verbrechen?«
Schmunzelnd betrachtete er seine sauber aufgeräumte hellgraue Schreibtischplatte, wo exakt
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