Heidelberger Wut
begeistert war er, als er hörte, dass ich nicht ihn, sondern seine Angestellte hinter der Fleisch- und Wursttheke zu sprechen wünschte.
»Tine hat aber Kundschaft.«
»Nur eine einzige Frage. Es dauert bestimmt nicht lange.«
Leise vor sich hinmaulend gab er schließlich nach. Ich vermutete, er ließ mich absichtlich lange warten. Endlich meldete sich die junge Frau. Ich erkannte ihre Stimme sofort wieder.
»Sie haben letzten Montagvormittag Herrn Seligmann bedient. Wir haben darüber gesprochen.«
»Ah, Sie sind das! Ja, stimmt. Ein Achtel grobe Leberwurst hat er gekauft und ein Putenschnitzel.«
»Kam er Ihnen an dem Tag irgendwie merkwürdig vor? Vielleicht zerstreuter als sonst? Deprimiert?«
»Nein, gar nicht. Im Gegenteil, er hat sogar eine Bemerkung über das Wetter gemacht. Für seine Verhältnisse war der richtig geschwätzig.«
»Das waren jetzt aber schon mindestens drei Fragen!«, hörte ich eine Männerstimme im Hintergrund grummeln.
»Was hat Herr Seligmann gemacht, nachdem er bei Ihnen fertig war?«
»Erst ist er zu den Nudeln«, erwiderte sie ohne Zögern. »Makkaroni hat er genommen und Reis, zum Putenschnitzel vielleicht. Anschließend war er beim Regal mit den Soßen. Dahin kann ich aber von hier aus nicht gucken. Ich hatte dann auch wieder Kundschaft. Später hab ich ihn am Weinregal gesehen.«
Ich erinnerte mich an die Aufteilung des Ladens. Die alkoholischen Getränke stehen ja aus irgendeinem Grund immer am Ende des erzwungenen Rundgangs.
»Und dann ging er zur Kasse?«
»Genau. Nein, warten Sie. Erst hat er noch die Zeitung genommen. Den Kurier.«
»Und den hat er in seinen Korb gelegt zu den anderen Sachen?«
»Nein«, kam es jetzt auf einmal sehr zögernd. »Er hat die Zeitung aufgeschlagen. Das macht er oft. Schon mal kurz reingucken. Aber er kauft sie dann immer trotzdem. Der Seligmann ist keines von den Sparschweinen, die die Zeitung gleich hier im Laden lesen und dann wieder zurückstecken. Tschuldigung, ich meine, Sparschweine nennen wir hier die Leute, die …«
»Und weiter?«
»Ich hab dann nicht mehr auf ihn geachtet. Hab Kundschaft gehabt, wie gesagt. Die Frau Völler. Die will immer nur Maultaschen. Irgendwann stirbt die todsicher an einer Maultaschenvergiftung.«
An der Wursttheke war Seligmann also noch guter Dinge gewesen. Für seine Verhältnisse geradezu ausgelassen, hatte eine Bemerkung über das Wetter gemacht. Und wenige Minuten später, an der Kasse, war er so blass und abwesend, dass Herr Widmer sich Sorgen um seine Gesundheit machte. Dazwischen lagen Makkaroni, Reis, zwei Flaschen Trollinger und eine Zeitung.
»Sönnchen«, rief ich durch die offenstehende Tür ins Vorzimmer, »könnten Sie mir bei Gelegenheit ein Exemplar des Kurpfalz-Kuriers vom vergangenen Montag besorgen?«
»Vielleicht find ich das Ding noch im Altpapier«, rief sie fröhlich zurück. »Ich les das Käseblatt zwar nicht, aber abonniert hab ich’s komischerweise trotzdem seit zwanzig Jahren.«
»Irgendwann werde ich Sie fürs Bundesverdienstkreuz vorschlagen müssen.«
»Eine Gehaltserhöhung würd’s auch tun, Herr Kriminalrat.«
Die restlichen Stunden des Nachmittags und Abends arbeitete ich liegen gebliebene und immer wieder zur Seite geschobene Dinge auf. Irgendwann kam eine SMS von Sarah. Pünktlich zur Abreise waren ihre Zahnschmerzen verschwunden, und auch Louise war wieder fit. Gegen zehn würden sie ankommen. Ich schrieb zurück, wünschte eine gute Fahrt und erhielt keine Antwort.
Draußen begann es zu donnern und kurze Zeit später zu regnen. Es wurde Abend, Sönnchen verabschiedete sich, das Gewitter zog weiter, verirrte sich irgendwo im verwinkelten Neckartal, und ich kam erstaunlich gut voran mit meinem Papierkram. Es gibt Stunden, da läuft es, und die muss man nutzen. Als ich um halb zehn endlich meine Tür abschloss, war mein Schreibtisch aufgeräumt wie lange nicht mehr, die Polizeidirektion lag still und wirkte verlassen. Nur unten, wo der Bereitschaftsdienst saß, brannte noch Licht. Ein Radio dudelte dort, und eine Frauenstimme lachte kreischend.
13
»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.«
Meine Begrüßung am nächsten Morgen war der reine Zynismus. Seligmann sah aus, als hätte er die ganze Nacht wach gelegen. Neben ihm thronte sein Anwalt, ein Doktor Knobel, wie ich seiner edlen Visitenkarte entnahm, spezialisiert auf Strafrecht.
Doktor Knobel war aufs Äußerste entrüstet gewesen, weil ich ihn nicht zurückgerufen hatte, und hatte sofortige
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