Heidelberger Wut
Display erkannte. Er war der Einzige im ganzen Amt, der aus unerfindlichen Gründen eisern seine Nummer unterdrückte, so dass ich auch ohne Brille sofort erkannte, wer anrief.
»Der Anwalt von diesem Seligmann hat angerufen. Er will mit Ihnen reden.«
»Und warum wendet er sich dann nicht an meine Sekretärin?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Er soll sich an Frau Walldorf wenden und sich einen Termin geben lassen.«
»Das geht aber nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich hab mir seine Nummer nicht aufgeschrieben.«
»Dann sehen Sie doch einfach im Telefonbuch nach.«
Betretenes Schweigen. Also hatte er sich auch den Namen nicht notiert. Runkel war nicht der intelligenteste meiner Mitarbeiter. Aber nun gut, der Anwalt würde sich irgendwann von selbst wieder melden.
Als ich seufzend auflegte, sah Frau Hellhuber mir ratlos ins Gesicht.
»Die Zeitungen haben Xaver damals als Helden gefeiert. Er sollte sogar irgendeine Medaille bekommen, für vorbildliches Verhalten. Aber das hat er abgelehnt, davon wollte er nichts hören. Stattdessen fing er mit dieser elenden Trinkerei an.«
»Die menschliche Seele funktioniert nun mal nicht wie ein Computer.«
»Und selbst die verstehen wir ja nicht immer, nicht wahr?«, meinte sie lächelnd.
Ich warf meinem Laptop einen schiefen Blick zu, der sich oft genug verhielt, als hätte er eine böse Seele voller fieser Launen.
»Haben Sie Herrn Seligmann auf das Thema angesprochen?«
»Das war völlig unmöglich.« Fast erschrocken schüttelte sie den Kopf. »Er war ja ohnehin nicht übermäßig kommunikativ. Aber darüber war überhaupt nicht mit ihm zu reden. Da war er wie …« Sie lehnte sich zurück, sah zur Decke. »Er wurde regelrecht wütend, wenn man ihn darauf ansprach. Man konnte fast den Eindruck haben, er fühlte sich …« Sie schluckte. Sah mir ins Gesicht. Sah wieder weg. »Schuldig«, sagte sie leise. »Ja, schuldig. Merkwürdig, nicht?«
Der Kaffee war getrunken. Die Uhr zeigte halb vier. Die Lehrerin erhob sich.
»Anfangs habe ich noch hin und wieder versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Aber meist hat er nicht einmal das Telefon abgenommen. Zwei, drei Mal habe ich ihm sogar einen Brief geschrieben, einmal eine Karte zum Geburtstag. Aber er hat nie geantwortet.«
»Sie haben ihn gemocht, nicht wahr?«, fragte ich.
»Gemocht?«, erwiderte sie mit verlegenem Lächeln und senkte den Blick. »Ein bisschen zu sehr vielleicht.«
Als Frau Hellhuber gegangen war, streckte Sönnchen den Kopf herein.
»Der Herr Runkel lässt ausrichten, der Name von dem Anwalt ist ihm wieder eingefallen, aber er kann ihn im Telefonbuch nicht finden. Und meine Schwester sagt, es ist ihr eine Ehre, den Wein für Sie zu besorgen, und wie viele Kartons es denn sein dürfen.«
»Fünf«, bestellte ich ohne zu überlegen oder nach dem Preis zu fragen.
»Sie kennt nämlich wen in der Winzergenossenschaft. Da kriegt sie ordentlich Prozente.«
Na, dann konnte der Wein ja so teuer nicht sein. Mindestens einen Karton würde ich in der Wohnung von Theresas Freundin deponieren.
Dann war es auf einmal still. Das passierte hin und wieder: Nachdem man stundenlang telefoniert und Gespräche geführt und Anweisungen gegeben hatte, war es plötzlich still. Das waren schöne Momente, die man genießen musste. Draußen war Wind aufgekommen, und es sah nach Gewitter aus. Ich setzte mich bequem hin und schloss die Augen.
Manchmal gehen unsere Gedanken seltsame Wege. Blitzschnelle Assoziationsketten, die uns im Rückblick völlig unlogisch erscheinen, aber dennoch punktgenau zum Ziel führen. Vielleicht war es das Stichwort Wein. Eigentlich lag schon wieder genug auf meinem Schreibtisch, was erledigt werden wollte, aber es gelang mir nicht, mich aufzuraffen. Etwas rumorte in mir, wollte an die Oberfläche. Wein. Wein? Ich musste unbedingt welchen kaufen, wenn ich heute Abend nicht auf dem Trockenen sitzen wollte. Meine Vorräte waren zu Ende. Die fünf Flaschen, die Theresa mitgebracht hatte, hatten wir gemeinsam geleert. Heute vor einer Woche hatte ich zum letzten Mal welchen gekauft, drei Flaschen Nero d’Avola in dem Lädchen, wo auch Seligmann üblicherweise seine Besorgungen erledigte.
Der Ladenbesitzer war definitiv nicht erfreut über meinen Anruf. Er habe inzwischen genug von der Polizei, erklärte er mir barsch, im Lauf der Woche habe er noch zwei weitere Male Besuch gehabt von Kollegen mit sehr, sehr vielen sehr, sehr lästigen Fragen, und nun sei es doch wohl wirklich genug. Noch weniger
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