Heidelberger Wut
dieses eklige Gefühl im Bauch. Und Gefühle sind, verdammt noch mal, etwas, was in meinem Job nichts zu suchen hat.
Aber Seligmann verschwieg mir etwas. Und dieses Etwas hatte mit Jules Tragödie zu tun, dessen war ich mir sicher.
Ich wählte Vangelis’ Nummer, um zu hören, wie weit die DNA-Analysen waren.
»Machen Sie den Leuten Druck!«, blaffte ich sie an. »Ich will die Ergebnisse so schnell wie irgend möglich!«
»Ich fürchte leider, das wird nicht viel helfen«, erwiderte sie kühl. »Aber ich werde gleich noch einmal anrufen.«
Den Zusatz, »auch wenn ich mich dadurch genauso lächerlich mache wie Sie« ersparte sie mir.
»Sie sollten mal ein bisschen Urlaub machen, Herr Kriminalrat«, meinte meine Sekretärin mit besorgtem Blick. »Fahren Sie doch mal ein paar Tage an den Bodensee. Meine Schwester vermietet auch Fremdenzimmer. Sogar mit Vollpension, wenn Sie möchten. Die würde Sie so verhätscheln, dass man Sie hinterher gar nicht wiedererkennt.«
»Sie würden auch nicht besser aussehen, wenn Sie gestern Abend fast einen Liter ziemlich schlechten Rotwein getrunken hätten«, knurrte ich. »Und ich hungere doch nicht ständig, bloß um mich dann von Ihrer Schwester mästen zu lassen und in drei Tagen so viel zuzunehmen, wie ich vorher in acht Wochen abgenommen habe!«
»Ich bring Ihnen eine Tablette.« Mit plötzlich sehr förmlicher Miene erhob sie sich und verschwand. »Vielleicht werden Sie ja davon wieder normal.«
Seufzend legte ich das Gesicht in die Hände. Meine morgendliche Rasur war fühlbar nachlässig gewesen. Sollte ich den Fall besser Vangelis übertragen? Es wäre das einzig Vernünftige. Morgen, beschloss ich, morgen würde ich wieder vernünftig sein. Diesen einen Tag gab ich mir noch. Ich wollte wissen, was in dieser Nacht vor zehn Jahren losgewesen war. Und ich wollte wissen, was Seligmann mir verschwieg.
Sönnchen brachte mir tatsächlich eine Tablette und ein großes Glas köstlich kaltes Wasser.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich weiß auch nicht, was mit mir ist.«
»Ich schon«, erwiderte sie schon wieder friedfertiger. »Die Sache mit diesem Mädchen tut Ihnen nicht gut.«
»Wem tut so etwas schon gut?«, seufzte ich, als ich das geleerte Glas abstellte.
»Das ist eine völlig idiotische Frage, Herr Kriminalrat«, erwiderte sie ernsthaft. »Und das wissen Sie so gut wie ich.«
»Sagen Sie für heute alles ab, was sich absagen lässt.«
»Was haben Sie vor?«, fragte sie bestürzt.
»Akten lesen.« Stöhnend zog ich die beiden schweren Ordner heran.
»Dann muss es Ihnen ja noch viel schlechter gehen, als ich dachte.«
Augenblicke später hörte ich sie draußen telefonieren und meinen Terminkalender leeren.
Schon nach wenigen Seiten verfestigte sich mein Gefühl, dass vor zehn Jahren etwas mehr als üblich schiefgelaufen war. Die damaligen Kollegen, von denen heute keiner mehr bei uns war, waren mit bemerkenswert wenig Engagement an den Fall herangegangen. Selbstverständlich hatten sie die Fakten zusammengetragen. Natürlich hatten sie alle Menschen vernommen, die in den umliegenden Häusern wohnten, es hatte die üblichen Aufrufe an die Bevölkerung auf der Suche nach Augen- und Ohrenzeugen gegeben. Auch damals kannte man schon den genetischen Fingerabdruck, immerhin war die Technik ja am Landeskriminalamt des Landes Baden-Württemberg entwickelt worden, und, da gab es keinen Zweifel, die Kollegen hatten getan, was nach der Lage der Dinge zu tun war. Aber mehr auch nicht.
Das war es, was ich hier vermisste: kreative Ideen, Verbissenheit, diesen unbedingten Willen, den Schuldigen zu überführen. Was ich vermisste, war das, was ein Kriminalist hervorbringt, wenn er sich in einen Fall hineinwühlt, so wie ich im Begriff war, es zu tun. Man kommt dann früher oder später in einen Zustand, wo es nichts anderes mehr gibt. Wo man an nichts anderes mehr denken kann. Alles, was nicht mit dem Fall zu tun hat, wird zur Nebensache. Ehefrauen hassen in solchen Zeiten den Beruf ihrer Männer oder ihre Männer selbst. Freundschaften gehen in die Brüche. Liebschaften und Leidenschaften erkalten, bis die Lösung gefunden ist. Und, man muss es leider sagen, manch einer ist schon daran zugrunde gegangen, dass er es nicht geschafft hat. Dass ein Fall, sein Fall, ungelöst blieb.
Ein Mensch kann nicht spurlos verschwinden, auch nicht für wenige Stunden. Schon gar nicht ein hübsches Mädchen, das sich schön gemacht hat und nach dem sich jeder zweite Mann auf
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