Heidelberger Wut
anderen Beruf. In ein anderes Leben. Noch fünf Minuten in diesem Raum, und ich würde zu Seligmann fahren und ihn verprügeln.
»Es tut mir leid«, sagte ich beim Abschied. »Glauben Sie, es macht uns keinen Spaß, das alles wieder aufzuwühlen.«
»Vielleicht ist es ja zu irgendwas gut.« Andreas Ahrens drückte überraschend fest meine Hand und sah mir zum ersten Mal direkt in die Augen. »Man wird sehn. Jedenfalls, meine Renate kommt dadurch auch nicht zurück. Vielleicht hätte ich es machen sollen wie sie. Abhauen, solange man noch konnte. Irgendwohin, wo man nicht andauernd an den ganzen Scheiß denken muss. Sie hat jetzt sogar wieder Kinder, hab ich gehört. Jungs. Besser als Mädchen. Man muss nicht ständig Angst haben um sie.«
An diesem Abend betrank ich mich. Über Kopfhörer hörte ich viel zu laute Musik, ich weiß nicht einmal mehr, was, und betrank mich dabei so sinnlos, dass ich mich später übergeben musste. Am nächsten Morgen hatte ich bohrende Kopfschmerzen und geriet wegen irgendeiner Kleinigkeit in Streit mit meinen Töchtern. Ohne Frühstück zogen sie Türen knallend davon, und ich blieb elend zurück. Ich glaube, es ging darum, dass sie abends irgendwohin wollten, zu irgendeiner tollen Fete, wie sie sich ausdrückten.
Was würde wohl aus mir werden, wenn einer meiner Töchter etwas zustoßen sollte? Würde ich enden wie Jules Vater? Plötzlich schien mir der Gedanke gar nicht so weit hergeholt. Wenn ich nun nicht ins Büro müsste? Wenn mich keine Sekretärin mit Kaffee und Croissants erwartete?
Hoffentlich machte sie ihn heute wieder so stark wie üblich. Ich beschloss, zu Fuß zu gehen in der Hoffnung, dadurch einen klaren Kopf zu bekommen.
17
»Wo sind bitte Ihre Beweise?«, bellte Doktor Knobel, der mich in meinem Vorzimmer erwartet und sofort überfallen hatte. »Nun verdächtigen Sie meinen Mandanten also auch noch der Vergewaltigung? Was Sie hier tun, ist, man kann es leider nicht anders ausdrücken, eine Ungeheuerlichkeit!«
Beim letzten Wort betonte er jede Silbe und sprach zu meinem Leidwesen in der höchsten Lautstärke, zu der seine Fistelstimme fähig war. Ich stellte fest, dass diese Stimme ideal war, um migräneartige Kopfschmerzen bis ins Unerträgliche zu steigern. Ich öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber ich kam nicht zu Wort.
»Erst diese monströse Geschichte mit dem Bankraub, und nun, als wäre dies nicht genug der Albernheiten, auch noch der Vorwurf der Vergewaltigung einer Minderjährigen! Sie führen offenbar eine Art Privatkrieg gegen meinen Mandanten. Aber damit haben Sie den Bogen überspannt, Herr Kriminalrat Gerlach!«
»Ich verstehe nicht ganz«, erwiderte ich mit aller Gelassenheit, zu der ich im Augenblick fähig war. »Sagten Sie Vergewaltigung? Wer verdächtigt Ihren Mandanten denn der Vergewaltigung?«
Doktor Knobel wurde ein wenig kleiner. »Herr Seligmann sagte mir am Telefon etwas in der Art.«
»Da muss er irgendwas völlig falsch verstanden haben. Wir sind lediglich dabei, den Fall Jule Ahrens noch einmal zu prüfen. Sie wissen, welche Fortschritte die Rechtsmedizin in den letzten Jahren gemacht hat. Von einem Verdacht in irgendeiner Richtung ist vorläufig keine Rede.«
»Ich verlange sofortige Einsicht in alle Verhörprotokolle!«
»Es gibt kein Protokoll, weil es kein Verhör gab«, erklärte ich freundlich. »Ich habe lediglich ein unverbindliches Gespräch mit Ihrem Mandanten geführt. Er war damals einer der wenigen Zeugen, und da er zufällig greifbar war, habe ich die Gelegenheit genutzt, mir die Geschichte von einem der damals am engsten Beteiligten erzählen zu lassen.«
Doktor Knobel schnaubte in hilflosem Zorn.
»Und wenn ich Sie daran erinnern darf, Ihr Mandant hat seine Beteiligung an dem Bankraub in Ihrem Beisein gestanden«, fuhr ich gemütlich fort. Eitlen Anwälten die Luft herauszulassen, war offenbar ein gutes Mittel gegen die Nachwehen von zu viel Nero d’Avola.
Als er abgezogen war, brachte Sönnchen fröhlich pfeifend und verschmitzt grinsend meinen so dringend nötigen Kaffee. Natürlich hatte sie alles mitgehört.
Und natürlich hatte dieser nervtötende Doktor Knobel vollkommen Recht. Ich hatte nicht die Spur eines Beweises, dass Seligmann mehr mit dem Fall Ahrens zu tun hatte, als in den Akten stand. Dass ein Mensch sich merkwürdig verhält, ist kein Beweis. Dass er sich weigert, den Dank der Eltern des Opfers entgegenzunehmen, konnte ich kaum gegen ihn ins Feld führen. Ich hatte nichts als
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