Heidelberger Wut
schlug sich auf den Schenkel. »Und da hat er gedacht, lieber geht er als Bankräuber in den Knast. Kinderschänder sind da nicht so gut angesehen.«
In unseren Gefängnissen gibt es eine klare Hierarchie. Ich weiß nicht, wer zur Zeit an der Spitze des Ansehens steht. Aber Männer, die Kinder vergewaltigt haben, stehen traditionell am unteren Ende.
Ich bat Runkel, Seligmann vorführen zu lassen. Wenn möglich heute noch. Nein, am besten sofort.
Aber Doktor Knobel war leider gerade bei Gericht, erfuhr ich kurz darauf, und hatte deshalb erst um halb sieben Zeit für uns. Anderthalb Stunden noch. Vielleicht war es ganz gut, dass mir Seligmann nicht gleich jetzt unter die Augen kam. Ich zog den Ordner wieder heran, rückte meine ungeliebte Sehhilfe zurecht und las an der Stelle weiter, wo Runkel mich unterbrochen hatte.
Seite um Seite kämpfte ich mich durch Protokolle, Aktennotizen, medizinische Gutachten. Hin und wieder sah ich mir das Foto an, auf dem Jule so verblüffende Ähnlichkeit mit meinen Töchtern hatte. Die Zeit schien stillzustehen. Irgendwann verabschiedete Sönnchen sich mit besorgtem Blick. Ich hatte gar nicht gehört, dass sie wieder im Vorzimmer saß.
»Sie machen wieder mal Überstunden, Herr Kriminalrat? Hätte es nicht auch morgen noch gereicht mit diesem Seligmann? Der läuft Ihnen doch nicht fort!«
Heute waren wir zu dritt. Vangelis, Runkel und ich. Uns gegenüber saßen Seligmann und sein Anwalt, der offenbar seine halbe juristische Bibliothek herbeigeschleppt hatte. Trotz der späten Stunde wirkte er energiegeladen und blitzte uns durch seine teure und dennoch hässliche Brille siegessicher an. Nachdem alle Platz genommen hatten, diktierte ich Datum, Uhrzeit, die Namen aller Anwesenden sowie den Zweck des Verhörs ins Mikrofon.
»Dieses Handy, Herr Seligmann, wozu haben Sie das benutzt?«
»Um mit meinen Partnern zu telefonieren. Darüber haben wir doch schon gesprochen.«
»Wann?«
»Na ja … was?«
»Wann haben Sie telefoniert? Gab es feste Zeiten? Haben Sie in regelmäßigen Abständen telefoniert, oder immer nur nach Bedarf?«
»Mal so, mal so.«
Der Anwalt beobachtete mich mit hochgezogenen Brauen. Er spürte, dass das Verhör nicht die erwartete Richtung nahm, konnte sich aber noch keinen Reim darauf machen.
»Wer hat wen angerufen?«, war meine nächste Frage. Ich drückte aufs Tempo.
»Je nachdem.« Seligmanns Antworten kamen jetzt sehr zögernd.
»Was heißt das?«
»Mal hab ich angerufen, mal die anderen.« Seine Miene verriet, dass er schon aufgegeben hatte. Dass er wusste, was jetzt kam.
Ich ließ ihn noch einige Sekunden schmoren. Längst wagte er nicht mehr, mir in die Augen zu sehen. Sein Mund war verkniffen. Seine Rechte fummelte nach den Zigaretten, fand sie, ließ sie liegen.
»Was soll der Unsinn?«, fragte ich schließlich. »Wen decken Sie?«
Er verzog das Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen, und schwieg. In seinem Blick lag jetzt nur noch Angst. Bitte, nun sag es doch endlich!, schien er zu schreien.
Ich schlug die gelbe Akte auf, den Laborbericht, und las einfach vor.
Als ich wieder aufsah, wirkte Seligmann ruhig, geradezu erleichtert. Als wäre er längst vorbereitet gewesen auf diese für ihn so katastrophale Wendung. Sein Anwalt hingegen war wie erfroren.
»Ich lege schärfsten Protest ein!«, polterte er los, als er wieder zu Atem gekommen war. »Warum wurden mir diese neuen Erkenntnisse nicht umgehend zugänglich gemacht? Das ist doch … Ich werde mich in aller Form über Sie beschweren …«
»Herr Doktor Knobel«, ich konnte mir ein selbstgefälliges Grinsen nicht verkneifen, »dieser Bericht ist so neu, dass wir leider noch keine Gelegenheit hatten, Ihnen Kopien zukommen zu lassen.«
Knobel schnaufte und schnaufte. Ruderte mit den Armen, suchte nach Argumenten. Fand keine.
»Aber falls Ihnen das hier nicht reichen sollte, ich habe noch mehr. Zum Beispiel sagte mir die geschiedene Frau Ihres Mandanten, er habe ein Verhältnis mit einer jungen Frau gehabt. Und ich liege wohl nicht falsch mit der Vermutung, dass diese Frau Jule Ahrens hieß.«
Seligmann hob bei dieser Eröffnung kurz den Blick. Knobel sank in sich zusammen mit dem Geräusch eines Schlauchboots, dem die Luft ausgeht. Eine Weile war nur der Atem der fünf Menschen im Raum zu hören. Die ungeheuerliche Beschuldigung hing im Raum wie ein Betonklotz. Mein Handy vibrierte. Ich ärgerte mich, weil ich vergessen hatte, es auszuschalten. Diesmal war es wieder
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