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Heidenmauer

Heidenmauer

Titel: Heidenmauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Maria Soedher
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tatsächlich mit einem Flyer zurück, der den Charme von Achtzigerjahre-Flugblättern hatte. Schielin musste das Blättchen etwas von sich entfernt halten, um etwas erkennen zu können, und las, dass es zuförderst darum gehe, die Integrations- und Sozialisationsfähigkeit von Kindern zu fördern, und nicht darum, stupide Texte auswendig zu lernen. Weiter wurde angemahnt, fächerübergreifendes und erfahrungsorientiertes Lernen zu praktizieren, wie es den Ergebnissen neuer Forschungen der Entwicklungspsychologie entspräche. Interessant war der letzte Absatz, in welchem darauf hingewiesen wurde, dass niemand einen Konflikt mit den Pädagogen suche, die wertvolle Arbeit leisten würden, und man eine Mediation anrege, um die entstandenen Irritationen beseitigen zu können.
    Er schüttelte den Kopf. Das war eines der neuen, gar nicht mal so unerfolgreichen Konzepte von Querulanten: Erst brachte man die Irritation in die Welt, um im gleichen Zug deren Aus-der-Welt-Schaffung anzubieten. Wer ein solches Angebot, so nannte man derartige Guerillataktik, nicht annahm, war nicht gesprächsbereit und hatte damit den Schwarzen Peter. Gar nicht blöde angestellt, dachte er.
    »Und das alles nur, weil ihr ein paar Gedichte auswendig lernen sollt? Das ist doch … was ist daran so furchtbar, und um welches Gedicht geht es eigentlich gerade?«
    »Hölderlin.«
    Er lehnte sich zurück. »Hölderlin! Unser ehemaliger Kanzler, der, den sie den Dicken nannten, hat einmal auf der Frankfurter Buchmesse gesagt Hölderlin schlägt alle tot. Das hab ich mir gemerkt, weil es irgendwie stimmt.«
    Er unterbrach kurz, um dann zu fragen. »Und was genau von Hölderlin?«
    »Lebensmitte«, kam es muffig.
    »Und wegen der paar Zeilen gibt es so einen Aufstand? Es ist eines der schönsten Gedichte deutscher Sprache.«
    Schielin sprach leise: »Mit gelben Birnen hänget, und voll mit wilden Rosen, das Land in den See …«
    »Du kennst es?«, kam es überrascht.
    »Ja sicher. Das muss man kennen. Es ist große Kunst, die noch dazu so einfach zu haben ist, ein paar Zeilen auswendig gelernt.«
    Der kurze Anflug von Verwunderung wurde mit einer etwas bockigen Attacke überspielt. »Aber es ist doch schon unpassend, dass wir, die wir ja noch so jung sind, ein Gedicht lernen sollen mit dem Titel Lebensmitte.«
    Schielin nickte ernst. »Weißt du, im Grunde hast du recht, und ich wünsche dir von Herzen, dass du alt und runzelig wirst. Aber es weiß doch niemand, wann er die Mitte seines Lebens erreicht hat.«
    »Es geht dabei ja auch nicht um dieses Gedicht«, sagte sie, »sondern um etwas fundamental Prinzipielles.«
    Schielin stand auf und ächzte ein wenig. »Ah … immer wenn es in Deutschland um etwas fundamental Prinzipielles ging, war das nicht sonderlich von Vorteil. Kannst du das Gedicht denn schon?«
    »Na klar.«
    Er ging nach oben und rezitierte stumm:

    Die Mauern stehn,
    Sprachlos und kalt, im Winde
    Klirren die Fahnen.

    Im CD-Schrank suchte er ein paar Takte Entspannung. Bach wäre nicht schlecht, war ihm aber etwas zu klar. In seiner derzeitigen Gemütslage konnte nur ein Österreicher helfen. Mozart. Wieder einmal musste das Klavierkonzert Nummer 9 ran. Diesmal nahm er die alte Aufnahme von Clara Haskill.
    Spät in der Nacht ging er noch einmal aus dem Haus und hinüber zur Weide am Waldrand. Er lehnte eine Weile still am Holzzaun und sah in die Nacht. Langsam hoben sich die Äste der Obstbäume, der hellen Flechten wegen, die die Borke überzogen hatten, von der Schwärze ab. Ronsard kam gemächlich angetrottet. Sein warmer Atem machte deutlich, wie kühl es geworden war.
    Der Montag konnte kommen.
    *
    Das Wetter hatte über Nacht eine Wendung zum Herbstlichen genommen. Es waren keine Regenwolken, und auch die Sonne ließ sich an diesem Montagmorgen erkennen. Es gab nur wenige Wolken, grau und flatterig, die langsam von Westen her den See querten. Mit ihnen war eine kühle Brise gekommen, die sanft hätte sein können, wäre es nicht erforderlich gewesen, die bloßen Stellen am Hals vor ihr zu schützen. Der See lag in mattem Graublau und zeigte etwas Leben. Ein erster Zug, der von Bregenz her kam, verursachte die üblichen Staus vor den Bahnübergängen.

    Schielin bereute es, keine Handschuhe mitgenommen zu haben. Je schneller er radelte, desto schneidender stieß die Kühle in die Haut. In den Büros des Gesundheitsamtes, mit denen sie sich das Gebäude teilten, brannte schon Licht. Ein Streifenwagen fuhr aus der Einfahrt hinaus in

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