Heidenmauer
Abend aß. Er tat wie geheißen. Sonntags gab es Chefmenü, und es war ein Genuss. Der Speisesaal war erfüllt von Gesprächen, Klappern und Klirren, einer Melange aus Düften der unterschiedlichen Speisen und der aus dem Salon herüberschallenden Klänge des Flügels.
Leo Korsch lauschte eine Weile versonnen und sagte schließlich: »Er hatte recht …« Er ließ eine Pause, horchte weiter den Klängen nach, als müsste er selbst noch einmal genau darüber nachdenken, was er ausdrücken wollte.
»Wer hat recht?«, fragte seine Frau.
»Gottfried Benn. Er hat recht, wenn er sagt, dass Chopins Musik wie geschaffen dafür ist, aus der Ferne gehört zu werden, aus einer geöffneten Tür oder einem halb offenen Fenster kommend, wie ein Schmetterling, unverhofft und wunderschön.«
Sie sah ihn verwundert an. »Sagte er das, Gottfried Benn? Ich erinnere mich in Verbindung mit ihm an ganz andere, weniger romantische, vielmehr drastischere Schilderungen.«
»Ja sicher, aber es gibt ein Gedicht von ihm, darin sagt er das.«
Sie lächelte und nahm das Weinglas. »Du und deine Gedichte.«
Er legte die Gabel zur Seite und blickte versonnen in den Raum. »Er spielt es sehr schön, dieses Nocturne. Alle Gäste sind beim Essen, keiner der Gäste hat vorne in den Sesseln Platz genommen oder Zeit gefunden, und so spielt er für niemanden als für sich selbst, daher klingt es so, wie es sein soll. Er muss keine Erwartungen erfüllen, sondern spielt so, wie ihm gerade ist – das ist schön.«
Jenseits der Fensterscheiben brach die Dämmerung herein. Das Blau am Horizont verlor zusehends an Kraft. Drüben, irgendwo zwischen Bahndamm und Pulverturm, tauchten die ersten fahlen, gelblichen Lichter aus dem Dunkel auf. Es existierte ein Augenblick während der Dämmerung, da schien es, als würde alles Helle heller werden und alles Dunkle dunkler, doch dann brach dieses kurze Aufflackern, diese Täuschung in tiefem Schwarz zusammen.
Sie riss ihn aus seinen Gedanken. »Wann musst du eigentlich gehen?«, fragte sie.
»Wir treffen uns um einundzwanzig Uhr dreißig in der Bar des Hotels Bayerischer Hof.«
»Wieso eigentlich so spät, und warum kommt er eigentlich nicht hierher?«
»Er sagte, er käme mit einem der Schnellzüge am Abend aus München zurück, und das Hotel liegt ja gleich gegenüber dem Bahnhof, noch dazu so aufreizend schön am Hafen.«
»Dann hat er da ein Zimmer?«, fragte sie, ohne auf seine Schilderung einzugehen.
»Ich weiß es nicht, denke aber eher nicht.«
»Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass du dich in der Nacht mit einem Fremden triffst.«
»Aber ich bitte dich. Es geht doch nur um eine Information und nicht um ein Geschäft. Ich hab weder Geld noch sonst irgendetwas Wertvolles bei mir. Außerdem – wir treffen uns auch nicht wie in einem Krimi, auf einem düsteren, nebligen Parkplatz, um Koffer auszutauschen, sei also bitte unbesorgt. Jetzt bist du es, die angespannt ist.«
Sie sah ihn an, während sie einen kräftigen Schluck Wein nahm, und sagte ruhig, aber bestimmt: »Nimm bitte das Handy mit.«
Kurz nach einundzwanzig Uhr verließ Leo Korsch den Parkplatz des Hotels Bad Schachen und fuhr auf die Insel Lindau. Den Mercedes, einen Leihwagen, stellte er auf einer freien Parkfläche vor dem Hotel vis-à-vis ab. Eine kühle Brise fuhr vom Hafen her in die Stadt. Er ging zum Bahnhof, drückte die mächtige Schwingtür auf, so wie Ungezählte es vor ihm getan hatten, was an den abgewetzten Messingbeschlägen zu sehen war. Der Zug aus München war schon angekommen, und die Diesellok drückte ein grollendes Stampfen auf den funktionellen Bahnsteig. Alles hier wirkte vergehend auf ihn, so ohne Leben. Ob es im Sommer anders war, oder war auch für die Zeit der Bahnhöfe ein Horizont in Sicht?
Es war kein Strom an Reisenden, sondern ein Tröpfeln, das sich beobachten ließ. Ein paar Rucksackträger, eine feine Dame mit Rollkoffer und ein älteres Ehepaar steuerten langsam in Richtung Bahnhofshalle. Leo Korsch machte niemanden aus, den er als die Person identifizieren konnte, mit der er eine Verabredung hatte. Er ging ein paar Schritte den Bahnsteig entlang, erinnerte sich an Zeiten, da er als Junge hier mit bebendem Herzen angekommen war, und ging schließlich hinüber in die Bar des Hotels Bayerischer Hof.
Heidenmauer
Conrad Schielin saß mit seiner Frau und den beiden Töchtern am Tisch in der Küche. Das Abendessen war vorüber, und über allem lag die dezente Lähmung eines Sonntagabends, die
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