Heidenmauer
Der Anblick der durch die Entfernung zu einem monumentalen steinernen Schatten zusammengedrängten Inselbauten förderte Vergangenes aus seinem Gedächtnis. Die Sonne hatte inzwischen ihr Werk vollbracht. Alle Schleier waren versengt, in der Ferne leuchteten die Berge, und nur über dem Wasser hielt sich ein schmaler Streifen lichten Dunstes. Die unschuldig weißen Segel einsamer Boote kreuzten das Blau des Wassers wie verirrte Federn, und selbst die Vögel achteten die matte Stille. Nur verhalten drang Gezwitscher aus Bäumen und Büschen. Aus der Ferne wechselte das Dröhnen von Motoren mit dem rhythmischen Schlagen der Wellen. Er schloss die Augen, fühlte die Wärme lang vergangener, heißer Sommer, schmeckte das Wasser des Sees, weich und frisch, fühlte, wie es in Perlen über Stirn und Nase rann, bis sich einige Tropfen an den Lippen verfingen.
Er schauderte in Erinnerung an die erbarmungslose Kälte eisiger Winter, fühlte den Schmerz erfrorener Füße nach stundenlangen Schlittschuhpartien auf den zugefrorenen Stellen des Sees. Und er roch die warme Stube seiner Tante wieder, sah den alten braunen Tisch mit den Intarsien vor sich stehen, hörte das knarrende Geräusch, das entstand, wenn man die Auszüge belastete. Daneben dann die beiden Sessel, das Sofa, der Duft nach warmer Milch, Honig – und immer wieder das Bild, das über dem Sofa hing und, gleich an welcher Stelle des Wohnzimmers man sich befand, den Blick unwillkürlich auf sich zog. Stundenlang hatte er auf dem Teppichboden liegen, ein Kissen unter dem Kopf, und diese weite Landschaft betrachten können. Sie hatte ihn, das Kind, entführt, weit weg in ferne Gegenden. Er war sich sicher, dass es dieses Gemälde war, das ihn mehr beeinflusst und angeregt hatte, als alles andere, was er danach sah und lernte. Mit diesem Bild hatte für ihn die Welt angefangen zu existieren, und heute war der Tag, wo es vielleicht ein Wiedersehen geben sollte. Es rührte ihn an, machte ihn still. Er saß mit geschlossenen Augen und schwelgte in lange vergangenen Zeiten, die nicht nur vergangen, vielmehr noch verloren waren.
Am Nachmittag tranken sie Kaffee auf der Terrasse. Am Steg legte eines der Schiffe an. Es war die Karlsruhe, wie er entziffern konnte; ein wenig stolz darauf, es ohne Brille geschafft zu haben, trotz seines Alters.
Nur eine Handvoll Leute waren ausgestiegen, kamen zurück von einer Rundfahrt, die an das schweizerische Ufer und über Meersburg und Wasserburg hierher zurück geführt hatte. Er spürte die Anspannung wachsen, obgleich es keinen Grund dafür geben sollte. Er war gesund, leidlich vermögend, liebte seine Frau, befand sich an einem der herrlichsten, friedlichsten Orte – und dennoch versetzte ihn der Gedanke, ein altes Gemälde wieder in Händen zu halten, in Aufregung. Dabei war es nicht so, dass er zu Sentimentalitäten neigte. Bei sachlicher Betrachtung handelte es sich schlicht um ein Ölgemälde, das an der tapezierten Wand über dem Sofa im Wohnzimmer seiner Tante hing.
Seine Frau las nach dem Kaffee auf dem Balkon. Er setzte die in seinem Inneren wirkende Erregtheit in Bewegung um und schlenderte zuerst ein wenig durch den Hotelkomplex. Er liebte die Großzügigkeit der Räume, die nicht einengten, vielmehr auf unaufdringliche Weise das Gefühl von Raum vermittelten und dem Einzelnen dabei dennoch den Eindruck von Intimität ließen. Lindgrün und Rosa rahmten Säle, Gänge, Salons und Zimmer. Immer wieder studierte er die Gemälde: Portraits, Landschaften, durchweg in Öl. Danach passierte er den Flügel und trat hinaus auf die Terrasse. Sein Weg führte ihn zunächst zum Steg, wo der Bootsverleiher auf einer Treppenstufe saß und einem Bekannten erzählte, dass dieser Sonntag schlecht fürs Geschäft gewesen sei. Leo Korsch lächelte, denn der Mann machte keineswegs einen unglücklichen Eindruck; ihm fiel außerdem die Redensart ein – kein Schaden ist ohne Nutzen, die er aber für sich behielt.
Er lehnte eine Weile am Holzgeländer, sah ohne Gedanken dem Spiel der Wellen zu und setzte seinen Weg fort. Im grellen Licht der spätsommerlichen Sonne wärmten sich vereinzelt Menschen am Ufer, tagträumten mit geschlossenen Augen in die wärmenden Strahlen oder lasen ein Buch. Der Anblick dieser Fremden wirkte beruhigend auf ihn, und er wendete schließlich im Friedenspark und ging zurück aufs Zimmer.
Appetit hatte er keinen, doch Martha bestand darauf, dass er vor dem Termin, der ihn so beschäftigte, noch mit ihr zu
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