Heidi und die Monster
Schultertuch. »So müsst Ihr der Herr sein, der im Adler abgestiegen ist.«
Der Fremde senkte den Blick auf das goldene Kreuz, das sie am Halse trug. »Erzählt man sich das also?«
Brigitte fuhr mit der Hand an den Hals, als ob ein eisiger Wind sie dort berührt hätte.
»Ist das Euer Mädchen?«, fragte er.
»Ach nein.« Sie legte Heidi die Hand auf die Schulter. »Die Mutter des Kindes ist tot. Es lebt jetzt bei seinem Großvater auf der Alm.«
Als ob der Fremde mehr nicht zu wissen verlangte, reichte er ihr die Hand und sagte: »Ich danke Euch für die Auskunft.«
Brigitte ergriff sie, und das Leder des Handschuhs war weicher als ihre arbeitsame Hand. »Da kommt mein eigenes Kind aus der Schule.«
»Peter!« Heidi sprang auf den Jungen zu, den es so manche Woche nicht mehr gesehen hatte. »Kannst du schon lesen und schreiben?«
»Kann es nicht und will es nicht«, sagte Peter und musterte den Fremden mit Scheu.
»Ist aber ein nützlich Ding, die Schrift zu erkennen«, sagte der Herr. »Bist du etwa der Geißenpeter?«
»Woher wisst Ihr das?«, fragte Brigitte anstelle des Sohnes, der nur starrte und schwieg.
»Im Gasthof wurde heut eine Ziege geschlachtet«, antwortete der Mann. »Das roch überall nach frischem Blut und roch so würzig, dass ich die Wirtsleute fragte, wie das komme. Sie sagten, die Geiß habe den Sommer über auf der höchsten Alm geweidet; so hoch hinauf brächte sie nur der Geißenpeter.«
Nun lachte Brigitte, weil sich die Sache aufgeklärt hatte, und Heidi lachte, weil sein Freund Peter schon überall so bekannt war, dass man sogar im Gasthof von ihm erzählte. Peter aber schwieg still.
Zur gleichen Zeit war der Großvater im Dorf unterwegs. Er hatte dem Schmied eine gebrochene Pflugschar zum Schweißen gebracht, hatte Zwirn und Talg und Brennstrümpfe für das Petroleumlicht gekauft und zu den Essensvorräten auf seinen Schlitten gepackt. Durch alle Gassen ging der Öhi mit gesenktem Blick, damit er keinen ansehen müsse, und die Leute taten es ihm gleich. Wohin er kam, wandten sie die Gesichter ab; kaum war er aber vorüber, steckten sie die Köpfe zusammen und tratschten.
Es war das erste Mal, dass der Öhi seit dem Vorfall auf dem Friedhof ins Dörfli kam. Viele hatten sich gefragt, ob er das Kind auf dem eisigen Berg habe verderben lassen, und sich gewundert, dass es so fröhlich und rotbackig mit dem grausigen Alten heruntergekommen war. Der Großvater grüßte keinen und wurde von keinem gegrüßt. Mit dem knotigen Stock in der Hand und mit seinen zusammengezogenen Brauen sah er so drohend aus, dass die Frauen zu ihren Bengeln sagten: »Geh dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte dir noch etwas tun.«
Als Letztes stellte er seinen Schlitten vor dem Bäckergewölbe ab, wenngleich er den Laden am liebsten gemieden hätte. Die Schelle schlug, er trat ein, drinnen bediente der Meister selbst. Die beiden Männer musterten einander voll Abscheu und redeten kein einziges Wort. Stumm zeigte der Öhi auf das Regal, wo drei Brote lagen, der Bäcker gab sie ihm und zählte die Groschen nicht, die der Alte hinlegte. Es war, als ob beide die Luft anhielten, während sie in ein und demselben Raum waren, und wirklich schnaufte der Großvater tief durch, als er aus dem Gewölbe wieder herauskam. Da er das Brot auf den Schlitten tat, bemerkte er
nicht gleich, dass der Pfarrer, der ihn vom Pfarrhaus beobachtet hatte, über den Platz kam.
»Guten Tag, Nachbar«, sagte der Priester.
Argwöhnisch schaute der Öhi den Geistlichen an, der im dünnen Rock ins Freie gelaufen war. »Guten Tag, Herr Pfarrer.« Die dargebotene Hand ergriff er nicht.
»Ich habe Euch lange nicht gesehen, Alm-Öhi.«
»Ich den Herrn Pfarrer auch nicht.«
»Könntet mich wohl öfter sehen.« Der Priester verschränkte die Arme, er begann zu frieren. »Jeden Sonntag beim Gottesdienst trifft er mich in der Kirche.« Darauf sagte der Alte nichts. »Aber ich will nicht die Schäflein meiner Herde einsammeln, sondern etwas mit Euch besprechen. Ich glaube, Ihr wisst, was meine Angelegenheit ist und worüber ich erfahren will, was Ihr vorhabt.«
Da der Großvater nicht wollte, dass der Bäcker mithörte, zog er den Schlitten in die Gasse hinein.
»Es geht um Euer Enkelkind«, sagte der Pfarrer. »Es hätte vor einem Jahr schon, noch sicherer aber diesen Winter die Schule besuchen sollen. Der Lehrer ließ Euch mehrmals mahnen, Ihr habt ihm nie eine Antwort gegeben.«
Als der Alte weiterging, trat ihm der Pfarrer
Weitere Kostenlose Bücher