Heidi und die Monster
stammelte der alte Mann. »Heidi«, flüsterte er. »O Himmel, das Heidi!« Und rannte mit mächtigen Schritten die Gasse hinunter und schwang den Stock, als wollte er alles niederhauen, was ihm in den Weg kam.
Kapitel 6
In dieser Nacht schlief Heidi auf seinem Heulager, zugedeckt mit einem dicken Fell. Der Großvater schlief keine Minute, saß am Feuer und wachte. Der gebeugte Mann sann und grübelte, aber keine Antwort wollte ihm einfallen auf die Frage, die seine Seele bedrängte.
Er hatte den Fremden im Dorf nicht mehr angetroffen. Nachdem Professor Marus erfahren hatte, was er wissen wollte, war er so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war, und hatte Brigitte samt Peter zurückgelassen. Heidi aber war in die Hütte zurückgesprungen und hatte sich mit der Großmutter angefreundet. Aufgeregt war der Öhi bald darauf eingetreten und hatte sich nach dem Fremden erkundigt. Bereitwillig hatte Heidi über den Herrn in Schwarz berichtet und des Großvaters Sorge dabei nicht bemerkt.
Der Alte hatte düster vor sich hingeblickt und auf Heidis Frage, ob er Geißenpeters Hütte zusammenflicken könne, abwesend genickt und gesagt, das werde er tun. Darüber hatte Heidi sich gefreut und war zur Großmutter gesprungen. »Siehst du, der Großvater wird Nägel einschlagen und
Keile schnitzen und hobeln, damit in deinem Haus nichts mehr im Wind schlägt und es nicht mehr eisig hereinpfeift!«
Die alte Frau hatte den Öhi eingeladen, das Nachtessen mit ihnen zu teilen, er aber wollte stracks auf die Alp. Er hatte Heidi in die Decke gewickelt und den Schlitten mit solcher Kraft und Anstrengung den Berg hochgezogen, dass ihm unterwegs schwach wurde und er sich setzen musste. Nicht für lange, es drängte ihn weiter, hinauf, nur hinauf, wo er dem Nächtlichen, dessen Ankunft er fürchtete, den Eingang zu wehren hoffte. Unterwegs hatte der Öhi gebetet, das Licht möge nicht schwinden, bis er das Kind in Sicherheit gebracht hätte.
Er erreichte die Alp mit letzter Kraft, doch unbeschadet, verstaute den Schlitten, fachte das Feuer an und briet Käse für Heidi. Nachdem sie gegessen hatten, brachte er es zu Bett und saß zärtlich über das Kind gebeugt, bis es ruhig atmete, seine Lider zitterten. Danach war der Großvater ans Herdfeuer geschlichen und grübelte schwer.
Nicht und nicht wollte ihm einfallen, wie er das Kind retten könnte. Darum nahm er das schlafende Heidi auf seine Arme und stapfte hinaus, durch den Schnee bergan, bis er den alten Schober erreichte. Bang sah er sich vor dem Eingang um, ob keiner aus der Finsternis hervorstürzen mochte, dann erst trat er ein, legte das Kind in eine windstille Ecke und setzte sich auf einen gestürzten Balken.
»Der Tag ist gekommen«, sagte er und schwieg darauf.
Wenig später vernahm er ein Wispern, als beginne es aus einem Grab zu sprechen. Es klang wie das Echo von jemandem, der vor langer Zeit geredet hatte, nun aber verstummt war. Die erstorbene Stimme seiner Geliebten zu hören tat
dem Öhi wohl. Sie war die Einzige, der er vertraute, das einzige Wesen außer Heidi, von dem er noch nie enttäuscht worden war.
Zur selben Stunde schlief die Familie des Geißenpeter in ihrer Hütte. Peter und seine Mutter gemeinsam im Bett, die blinde Alte in der Nische, wo sie nächtigte, seit ihr Mann vor dreißig Jahren gestorben war. Sie schlief einen hellen Schlaf, denn in ihren Träumen, während die nächtlichen Schwestern, Erinnerung und Fantasie, sie davontrugen, war alles strahlend und voll leuchtender Farben. Das Sinnenreich des Schlafs dünkte sie so wunderbar, als sei es eine Vorstufe des Todes, und genau so müsste das Paradies aussehen.
Während die Großmutter in ihrem farbenfrohen Traum schwelgte, öffnete sich kein Riegel der Hütte, kein Schloss ging auf, auch kein Fensterladen. Ein dünner Nebelschwaden drang in die Wohnstatt, denn Ritzen gab es genug in dem windschiefen Haus. Der Nebel schuf ein wenig Licht in der finsteren Stube, er war blau und leuchtete von innen. Er floss zum Ehebett hin; Peter lag auf der äußeren Seite. Der Dunst glitt über sein Gesicht und bedeckte es so vollständig, dass Peter mitten im Schlaf die Sinne schwanden. Danach kehrte der Nebel in seine wahre Gestalt zurück, wenn es Wahrheit bei einem Wesen wie ihm überhaupt gab. Er war voll düsteren, blutrünstigen Lebens und zugleich eine Ausformung des Leblosen. Sein Herz hatte vor Jahrhunderten zu schlagen aufgehört. Dieses Geschöpf war ein Hohnlachen auf alles Lebendige, es
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