Heidi und die Monster
Ende war, wurde Klara ins Studierzimmer gestoßen und Heidi angewiesen, zu folgen und bei Klara zu bleiben, bis der Herr Kandidat kommen würde, um die Unterrichtsstunde zu beginnen.
Als die beiden allein waren, sagte Heidi: »Wo ist hier ein Kirchturm, von dem aus man bis hinunter auf die Erde schauen kann?«
»Da gibt es viele in Frankfurt«, antwortete Klara. »In der Nähe ist einer mit einer goldenen Kugel oben.«
»Da wollen wir hinauf!«, rief Heidi voll Sehnsucht.
»Ach«, seufzte Klara. »Du bist noch zu klein, die vielen Stufen zu steigen, und ich werde wohl nie wieder etwas auf meinen eigenen Füßen erklimmen.«
»Wirst du doch! Und ich auch«, antwortete Heidi frisch. Es war eine große Erleichterung für es, von dem Turme zu hören, stand es doch noch ganz unter dem Druck des Gefangenseins in seinem Zimmer. Klara fragte Heidi, wie es bei ihm zu Hause sei, und als das Kind zu erzählen begann,
wurde es vor Freude ganz aufgeregt. Je mehr es von der Alm und den Geißen und der Weide schwärmte, desto farbiger und schöner stellte es sich die Dinge vor und wurde dabei wiederum ganz traurig. Denn an dem fremden Ort hatte es noch nichts von all dem Wunderbaren entdeckt.
Unterdessen trat im Haus unten der Kandidat ein. Das war ein füchsisch aussehender Mann mit spitzer Nase und leicht geöffneten Lippen, auf denen sich stets Speichel sammelte, den er mit einem himmelblauen Tuch fortwischte. Manchmal wurde er von einem nervösen Leiden durchzuckt, das sich in Gegenwart von Frauen verschlimmerte. Der Kandidat war arm und daher gezwungen, sich sein Studium als Hauslehrer zu verdienen. Er schätzte die Tätigkeit bei Sesemanns, denn das Haus bot größtmögliche Sicherheit für einen schwächlichen Gesellen wie ihn; zudem schien die Stellung auf unbestimmte Zeit gesichert, da Klara wohl nie wieder aus dem Rollstuhl aufstehen würde.
Heute führte Fräulein Rottenmeier den Kandidaten nicht wie gewohnt ins Studierzimmer, sie musste erst eine Sache mit ihm besprechen und bat ihn ins Speisezimmer. Sie hatte Herrn Sesemanns Wunsch zugestimmt, es möchte eine Gespielin für Klara ins Haus genommen werden, die ihr während der Unterrichtsstunden ein Ansporn, in der übrigen Zeit eine anregende Gesellschaft sein würde. Herr Sesemann hatte daran nur die Bedingung geknüpft, dass die Gespielin in allem gleich gehalten werde wie Klara selbst; er wünschte keine Kinderquälerei in seinem Haus.
»Wer wollte Kinder quälen!«, rief die Rottenmeier und erzählte, wie schrecklich sie hereingefallen sei mit dem eingetroffenen Kind. Nicht nur müsse der Kandidat den Unterricht
wieder beim Abc beginnen, auch auf jedem Punkt menschlicher Erziehung sei bei Adelheid an den Uranfang zurückzugehen, unbeholfen wie sie sich anstelle. Aus dieser heillosen Lage sehe die Rottenmeier nur ein Rettungsmittel - das war der Punkt, auf den sie insgeheim hinauswollte -, der Kandidat müsse erklären, zwei so unterschiedliche Wesen könnten unmöglich miteinander unterrichtet werden. Darauf würde man Herrn Sesemann in Kenntnis setzen, dass das Kind wieder dahin zurückgeschickt würde, wo es hergekommen sei.
Der Kandidat gab zu bedenken, wenn die Gespielin so zurückgeblieben sei, möchte sie wohl umso geförderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins Gleichgewicht kommen werde. So gesprochen, hatte der junge Mann seine Hintergedanken schlau bemäntelt; dass nämlich ein dummes Kind weit mehr der Unterrichtung bedurfte als Klara und er somit noch häufiger ins Sesemannhaus kommen könnte als bisher.
Enttäuscht, dass der Kandidat sie nicht unterstützte, sondern ankündigte, er wolle den Abc-Unterricht bei Adelheid übernehmen, öffnete die Rottenmeier ihm die Tür ins Studierzimmer. Es blieb keine Zeit zu Vorstellung und Unterweisung; das Fräulein wurde in die Halle gebeten, wo Trojan ihr mitteilte, es habe sich überraschend Ersatz für das ermordete Stubenmädchen gefunden. Die Rottenmeier folgte Trojan ins Wäschezimmer, wo eine adrette Person ihre Aufwartung machte.
Jungfer Tinette, wie sie sich nannte, vollführte einen vollendeten Knicks; auf die Frage, bei wie vielen Herrschaften sie schon gedient habe, antwortete sie gesittet: »Es waren
hochgestellte Persönlichkeiten, gutsituierte Herren, die sämtlich von meinen Dienstleistungen befriedigt gewesen sind.«
Der Stimmklang der Jungfer war angenehm, fand Rottenmeier, auch ihr Äußeres gefiel. Tinette hatte auf Trojans Anweisung bereits die schwarzweiße
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