Heidi und die Monster
Richtung in dieses Zimmer, wie es in Frankfurt kein zweites gab, einschlagen wollte, entdeckte sie unter der Tür des Salons einen Lichtstreif. Erstaunt und neugierig, wer sich um diese Stunde dort aufhalten mochte, öffnete sie die Tür.
Es war angenehm warm, im Kamin brannte ein Feuer. Klara konnte sich nicht erklären, wer es angefacht hatte, denn gleich nach dem Abendessen ließ man es üblicherweise ausgehen. Sie rollte näher und erschrak, da im Lehnstuhl vor dem Kamin jemand saß.
»Guten Morgen«, sagte eine freundliche Stimme. Das war sonderbar, da draußen noch tiefe Finsternis herrschte.
»Herr Kandidat!«, rief Klara, nervös und erleichtert zugleich.
»Ein Nachtschwärmer, unser Fräulein«, antwortete Marus.
»Ich hatte Durst und wollte …« Sie hob die Karaffe von ihrem Schoß.
»Ich fürchte, hier drinnen werden wir nur die geistlichen Getränke Ihres Herrn Vaters finden.«
»Papa hat mir noch nie erlaubt, etwas anderes als Wasser zu trinken.« Es kam Klara nicht in den Sinn, nach dem Grund zu fragen, weshalb der Lehrer es sich hier bequem machte, als sei er der Hausherr persönlich.
»Und das ist richtig«, antwortete Marus. »Andererseits …« Er lächelte verschwörerisch. »Fräulein Klara geht bereits in ihr dreizehntes Jahr. Da ist es an der Zeit, neue Erfahrungen zu sammeln und dies und das auszuprobieren.«
»Was meint er?« Neugierig musterte sie den Herrn, der mitten in der Nacht korrekt gekleidet war; einzig den Kragen hatte er ein wenig gelockert, und das sonst akkurat frisierte Haar fiel in seine Stirn.
»Ich weiß nicht, ob man dir schon einmal etwas von der grünen Fee erzählt hat.«
»Grüne Fee?« Sie verzog den Mund. »Für solche Märchengeschichten bin ich zu alt.«
»Das glaube nicht«, erwiderte er und tätschelte die Hand des Mädchens. »Die grüne Fee vermag Wonnen zu verursachen, wie du sie dir nicht vorstellen kannst.«
»Wonnen?« Das Mädchen schluckte, zog die Hand aber nicht zurück, seine Berührung tat ja so wohl. »Was wären das für Wonnen?«
»Sie zu beschreiben, bin ich nicht in der Lage.« Mit dem Handrücken strich er ihren Arm entlang und endete an Klaras Hals. »Wozu sich mit Erklärungen abmühen, wenn wir das Exempel dank deinem Vater gleich statuieren können?«
Er stand auf, ging zur hohen Anrichte und öffnete die versperrte Glastür, ohne einen Schlüssel zu brauchen. Marus wählte zwischen etlichen Flaschen eine mit gelblichem Inhalt aus und präsentierte sie dem Mädchen.
»Hier drin, Klara, sitzt die grüne Fee.«
»Ist doch aber nichts Grünes darin zu erkennen.«
»Weil die Fee sich erst entfalten muss.«
Der Professor brachte ein Glas und legte einen merkwürdig geformten Löffel darauf, der kunstvolle Öffnungen hatte; darauf platzierte er ein Stück Würfelzucker. Sogleich hatte er eine zweite Flasche mit klarem Inhalt zur Hand, aus der er einige Tropfen auf den Zucker träufelte. Nachdem sie durchgesickert und ins Glas gefallen waren, hinterließen sie eine milchige Spur, die sich grün färbte.
»Nun, liebe Klara, siehst du die Fee?«
»Ja, ja«, hauchte sie. »Sie schwebt ja förmlich.« Dem Mädchen kam der Tanz der Tropfen wirklich wie ein Elfenreigen vor.
»Wenn du von der grünen Fee kostest, wirst auch du zu schweben beginnen.« Marus nahm den Löffel vom Glas und bot es Klara an.
Oft schon war in der Seele des gelähmten Wesens die Sehnsucht zu fliegen aufgetaucht. Da sie nicht hoffen durfte, ihre Beine je wieder zu gebrauchen, schien ihr der Zustand der Schwerelosigkeit gleichbedeutend mit vollkommenem Glück.
»Wie könnte ich wohl schweben?«, flüsterte sie, spürte, wie der Glasrand ihre Lippen berührte und Absinth sich in ihren Mund ergoss. Der Geschmack war von einer Bitterkeit, die in der Zuckersüße ein prickelndes Gegenleben fand. Klara schluckte, hauchte den heißen Atem aus, der Absinth brannte in ihrem Leib und gab ihr erregende Hitze.
»Lehn dich zurück, schau ins Feuer und warte, was geschieht.« Der Professor kehrte zu seinem Lehnstuhl zurück
und beobachtete, wie der Rausch das Mädchen allmählich umfing.
Marus und Klara waren nicht die Einzigen, die in dieser Nacht der Schlaf floh. Wünsche, Erwartungen, Gefühle erwachten im Haus wie dunkle Blumen und begannen in den stillen Räumen zu wuchern.
Tinettes Gemüt war gespalten. Zum einen genoss sie die Sicherheit in der Festung Sesemann; früher hatte sie manche Nacht gebangt, ob sie das Morgenrot erleben würde. Doch kamen ihr die
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