Heidi und die Monster
Rosamund finden müssen und sie im verfallenen Heuschober untergebracht. Dorthin trug er ihr täglich die heilende Milch hinauf, sprach und beriet sich mit ihr; wundersam blühte und gedieh ihre Liebe auch im Zustand des Schreckens.
Tratsch und Gerücht hatten Rosamunds Schicksal schließlich auch dem Bäcker zugetragen. Man bemitleidete und ermunterte ihn, dem Treiben auf dem Berg ein Ende zu setzen. Der Meister entschied sich anders. Für ihn war Rosamund gestorben, und so lebte er seitdem als Witwer.
Heute schien ihm der Tag gekommen, alles Unrecht auf einen Streich zu tilgen. Heidis Rückkehr, der Alte und sein Festungsbau und die Ankunft des dunklen Herren, der ein mächtiger Untoter sein musste - alles drängte auf die ersehnte Befreiung hin, die der Bäcker von Gott erflehte. Daher zögerte er nicht zu handeln. Er wartete, bis Heidi und die Dörfler außer Sichtweite waren, schlug sich in eine Seitengasse, durch die er wenig später das Dorf verließ. Ängstliche Blicke zurückwerfend, ob jemand ihn beobachte, eilte der betrogene Bäcker auf den Friedhof.
Heidi und seine Begleiter hatten das steilste Wegstück in Angriff genommen.
»Und hier … steigst du … täglich…« Tinette hielt sich keuchend die Seite. »… täglich mit deinen Ziegen hinauf?«
»Freilich, und noch höher«, lachte Peter.
»Viel höher, schau, bis zur Zinne dort!« Heidi zeigte hinauf. Das Prusten und Schnaufen Tinettes vergnügte es sehr.
»Warum nur? Hier unten gibt es doch Gras genug für die Tiere.«
»Nur auf der Hochalm stehen die wilden Kräuter, die die Milch und den Käse würzig machen!«
Heidi lief weiter. Es hatte nur noch den Gedanken: Wird der Großvater auf seinem Plätzchen sitzen und in die Sonne schauen, die Pfeife im Mund? Während es rannte, so schnell die Beine es trugen, verwandelte sich schon das Licht. Die Sonne besänftigte sich, ihre Strahlen wurden rot, dadurch begann die Bergwelt zu glühen. Tinette hatte so etwas noch nie gesehen, wischte sich über die Stirn und staunte, wie die Matten, Bäume und Felsen in den Zauber eintauchten, der gleißender wurde, je tiefer die Sonne sank. Drüben war das große Schneefeld am Cäsaplana in rosafarbenem Glanz zu sehen.
Heidi jauchzte. Sosehr das Tageslicht dem verunreinigten Kinde zugesetzt hatte, sosehr genoss es den roten Abglanz der Schönheit. In solcher Herrlichkeit hatte es seine Heimat im Sinn gehabt und in seinen Träumen gesehen. Die Felshörner am Falkniss flammten zum Himmel, das Schneefeld brannte, rosenrote Wolken zogen darüber hin. Das Gras war golden, von den Felsen flimmerte und leuchtete es, unten schwamm weithin das Tal in Duft und Gold. Heidi war ganz in Wonne. Es wunderte sich, dass ihm nicht, wie sonst bei dem Anblick, die Tränen herunterliefen. Doch kein Untoter ist imstande zu weinen. So weit hatte der Dämon bereits von dem Mädchen Besitz ergriffen, dass ihm die Tränlein versiegt waren. Auch wenn es den Willen hatte, Gott zu danken, weil er es wieder heimgebracht hatte und alles noch viel schöner war als in seiner Erinnerung, gelang Heidi das
Stoßgebet nicht. Der Dämon entfremdet den Menschen von seinem Schöpfer; das ist das Schlimmste an der Verwandlung, die Abkehr von Gott.
Während das Abendrot seine Flammengewalt versandte, rannte Heidi den andern weiter voran. Nicht mehr lange, und es erblickte die Tannenwipfel über dem Dache, jetzt das Dach und die ganze Hütte, die alten Bäume wogten und rauschten im Abendwind. Alles andere aber hatte sich verändert.
Wo früher die Wiese sanft abgefallen war, sperrte ein Graben den Weg, darin lagen Streu und Tannenreiser und klafterweise Holz. Dieses Hindernis überwand Heidi leicht, vor dem nächsten aber wusste es nicht weiter. Gleich den Zähnen einer Egge standen Spieße zum Himmel, dicht nebeneinander in den Boden getrieben, ein Vorankommen war nicht möglich. Auch der Platz und die Hütte waren wie ausgetauscht. Da standen Eimer und Bottiche mit Harz, da waren aus jungen Fichten Lanzen geschnitzt worden, deren Spitzen messerscharf aussahen. Die Fenster und die Tür hatten Läden aus hartem Lärchenholz bekommen, die von innen verriegelt waren. Selbst der Schornstein war eingeschalt worden, dass der Rauch abziehen, von oben aber nichts in den Rauchfang hineinklettern konnte.
»Großvater!«, rief Heidi hinter der Barrikade. Und immer wieder: »Großvater, Großvater!«
Der alte Mann stürmte aus seiner befestigten Hütte, verharrte, da er den Anblick nicht glauben
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