Heike Eva Schmidt
purpurfarbenen Nebelschwaden auf mich zukommen. Und obwohl mir zwei Tränen die Wangen hinunterliefen, lächelte ich. Ich rollte mich auf den Rücken und streckte die Arme aus.
»Komm«, sagte ich leise, als der schwarze Strudel auftauchte, »komm und bring mich heim.«
Kapitel 19
C at-Schatz, dünn bist du geworden!«, rief meine Mutter, kaum dass sie ihren schweren Koffer abgestellt und mich in ihrer mütterlichen Wiedersehensfreude abgeküsst hatte. »Dabei habe ich dir doch extra die ganze Kühltruhe mit leckeren Sachen aufgefüllt«, fügte sie etwas vorwurfsvoll hinzu und hielt mich eine Armlänge von sich weg, um mich besorgt zu mustern.
»Dein berühmter Apfelkuchen hat mir eben gefehlt«, scherzte ich etwas kläglich, während ich meinen Vater zur Begrüßung umarmte. Insgeheim hoffte ich, den beiden würden meine roten, geschwollenen Augen nicht auffallen. Bestimmt befürchtete meine überbesorgte Mama sonst, ich hätte heimlich gekifft. In Wirklichkeit heulte ich mir seit drei Tagen wegen Jakob die Augen aus.
Dabei hatte ich kurz nach meiner »Heimkehr« ins Jahr 2012 noch gehofft, die Zeitreise könne meinen Liebeskummer etwas mildern. Aber nicht einmal 300 Jahre Abstand genügten, um die Trauer über den Abschied von Jakob – und natürlich auch Dorothea – zu dämpfen. Im Gegenteil, so gründlich hatte mir noch kein Junge je zuvor das Herz gebrochen. Dabei hatte Jakob ja nicht mal klassisch mit mir Schluss gemacht. Wir lebten einfach nur in zwei derart verschiedenen Welten – und Zeiten –, dass es keine Möglichkeit für uns gab. Wirklich keine?, hatte ich mich nach der ersten schlaflosen Nacht mit nassgeweintem Kopfkissen und dem Herz voller Jakob-Gefühle gefragt. Etwas in mir hatte sich gegen die Endgültigkeit unserer Trennung aufgebäumt. Also war ich um vier Uhr morgens aus dem Bett gesprungen und hatte das helle Deckenlicht in meinem Zimmer angeknipst. Geblendet und mit halbgeschlossenen Augen hatte ich die inzwischen fast völlig zerschlissene Männerkleidung aus dem 17. Jahrhundert übergestreift. Anschließend war ich herumgestolpert und hatte hektisch nach dem ledernen Schriftstück gesucht, auf dem die seltsame Beschwörung eingeritzt stand. Nachdem der Inhalt meines halben Kleiderschranks auf dem Fußboden verstreut lag und ich die Hoffnung beinahe schon aufgegeben hatte, fasste ich in die Kitteltasche meines altertümlichen Hemdes und fühlte das rauweiche Material unter meinen Fingern. Mit zitternden Händen zog ich es hastig hervor, wobei es mir herunterfiel. Eilig bückte ich mich danach, während mein Herz so laut hämmerte, dass es wie ein Bass in meinem ganzen Körper wummerte. Würde ich wieder ins 17. Jahrhundert gehen können, um Jakob noch einmal, ein einziges, kostbares Mal zu sehen? Ich hätte alles dafür gegeben, noch einmal ein Lächeln von ihm zugeworfen zu bekommen, seine Hand zu halten und ihn zu küssen. Mein Verstand, diese lästige, vernünftige Stimme in meinem Kopf, sagte mir zwar, dass das Unsinn war und es den Schmerz nur vergrößern würde, wenn ich mich immer wieder an das Mantra »nur noch ein letztes Mal« klammerte, aber in diesem Moment war mir das egal. Mein rationales Denken hatte ich ausgeknipst, wie eine zu grelle Nachttischlampe. Die Sehnsucht nach Jakob wühlte wie ein glühendes Fieber in meinem Körper, und ich war bereit, alles zu tun, wenn ich ihn nur wiedersehen dürfte.
Als ich das Schriftstück endlich in Händen hielt, waren die eingeritzten, schiefen Buchstaben verschwunden. Nichts zeugte mehr davon, dass dieser zerrupfte Lappen jemals etwas anderes als ein altes Stück Leder gewesen war, geschweige denn magische Kräfte besessen hatte.
Versuchshalber rezitierte ich den Wortlaut der Zeilen aus dem Gedächtnis:
Erbarm dich mein o herre got
nach deyner grosn barmhertzigkeyt …
Doch nichts passierte. Kein Schwindel ergriff mich und kein purpurschwarzer Strudel kam, um mich mit sich zu nehmen. Ich saß nach wie vor auf meinem Bett, festgebannt im Jahr 2012. Der Halsreif war vernichtet, die Beschwörung existierte nicht mehr, und ohne diese beiden Dinge erstarb auch der Zauber, der mich zu Jakob hätte bringen können. Meine Faust krampfte sich um das Lederstück, und meine Tränen fielen auf den brüchig gewordenen Leinenstoff der alten Hose. Ich weinte um Jakob und meine verlorene Liebe. Die erste, die mich so tief berührt hatte und deren Verlust so unglaublich weh tat.
Ich hatte keinen Appetit mehr gehabt und beinahe die
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