Heike Eva Schmidt
schmerzenden, geschwollenen Gelenke der alten Barbara an. Danach bereitete sie im Mörser eine Gewürzmischung aus Bibernellwurzel, Mutterkümmelpulver und weißem Pfeffer zu: für ihre Nachbarin Sophia, die in Kürze ihr erstes Kind gebären würde und seit Tagen jeden Morgen erbrechen musste.
Soeben hatte Dorothea das Feuer im Herd noch einmal entfacht und sich ein paar widerspenstige Haarsträhnen aus dem erhitzten Gesicht gestrichen, als es klopfte.
»Daniel«, dachte sie, und eine heiße Freude durchströmte sie. Ziemlich undamenhaft rannte sie zur Tür und riss sie auf. Doch vor ihr stand nicht ihr Herzallerliebster, sondern ein kleiner Junge in zerrissenen Hosen und einem Hemd, dem man deutlich ansah, was es in den letzten Tagen zum Essen gegeben hatte. Rübenmus und Getreidebrei, dachte Dorothea. Trotz ihrer Enttäuschung lächelte sie den Knirps freundlich an.
»Hat dich deine Mutter geschickt? Ist jemand krank?«, fragte sie, doch der Kleine schüttelte den Kopf und streckte Dorothea ein mit Atlasseide umwickeltes Päckchen hin.
Sie griff danach und betrachtete es unschlüssig. Der Junge wartete gespannt. Sie winkte ihn in die Stube und drückte ihm außer einer Münze auch noch ein Stück Honiglebkuchen in seine schmutzige Hand. Sofort biss er von dem Zuckerwerk ab und begann, eifrig zu kauen.
Dorothea konnte ihre Neugierde nicht mehr zügeln: Vorsichtig packte sie das Mitbringsel aus und erblickte einen wunderschönen Schildpattkamm. Eine solche Kostbarkeit hatte sie noch nie besessen. Obwohl sie ahnte, von wem das Geschenk kam, war sie diesmal nicht so schnell zum Einlenken bereit. Zu tief saß die Kränkung durch Daniels wortloses Kuschen vor seinem Vater.
Erst jetzt bemerkte sie, dass das Kind immer noch in der Stube stand und den Haarschmuck mit großen Augen anstarrte.
»Hat dir das ein junger Mann mit hellen Augen gegeben?«, fragte Dorothea freundlich.
»Nein. Es war ein alter Mann mit bösen Augen und einer großen Nase«, piepste der Kleine und sah Dorothea ängstlich an.
Dorothea ließ den Kamm so abrupt fallen, als habe sie eine Schlange gebissen. Eine Abneigung, heftig wie eine Sturmböe, durchfuhr sie, und rotglühende Wut kochte in ihr hoch. Auf Richter Förg, weil er sie bedrängte, aber auch auf Daniel, weil er sich seinem Vater beim Tanzfest nicht widersetzt hatte.
Entschlossen bückte sie sich, hob den Haarschmuck wieder auf und wickelte ihn achtlos in den Atlasstoff.
»Hier. Bring das zurück. Die Münze darfst du behalten«, sagte Dorothea. Sie steckte dem Jungen noch einen zweiten Lebkuchen in seine fleckige Kitteltasche und schob ihn sanft, aber bestimmt zur Türe. Als sie alleine war, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand und stieß heftig den Atem aus. Der Richter würde sie nicht bekommen, niemals!
Weder an diesem noch am folgenden Tag erhielt Dorothea Besuch von Daniel, und sie versuchte, sich durch Arbeit abzulenken. Aber auch wenn es ihr gelang, die Beschwerden der ratsuchenden Bamberger zu lindern, gegen ihr eigenes gebrochenes Herz war kein Heilkraut gewachsen.
Als sie, zwei Tage nachdem sie das Geschenk des Richters zurückgewiesen hatte, über den Marktplatz ging, um einen Leinenstoff für kühlende Wickel und heiße Kräutersäckchen zu erstehen, sah sie plötzlich den kleinen Jungen, der ihr den Kamm gebracht hatte. Er kauerte mit zwei anderen Kindern am Boden und versuchte, ein paar farbige Murmeln aus Ton in eine runde Bodenkuhle zu rollen.
Lächelnd trat Dorothea hinzu, doch als das Kind sie erblickte, sprang es ängstlich auf und griff nach den Murmeln, ehe es davonlaufen wollte. Erschrocken sah Dorothea die lange, blutige Schramme, die sich von der rechten Augenbraue des Jungen bis zu seiner Schläfe zog. Reflexartig packte sie den Kleinen am Kittel und hielt ihn fest. Er blickte sie an, seine Augen waren die eines Tieres in der Falle. Sie ging vor ihm in die Hocke, bis ihre Gesichter auf Augenhöhe waren, und fragte sanft:
»Bist du hingefallen? Soll ich dir eine Salbe geben?«
Der Junge öffnete den Mund, doch er brachte kein Wort heraus.
»Na komm, ich mische dir etwas zusammen, dann tut es gleich nicht mehr so weh«, sagte sie aufmunternd und wollte ihn mit sich nehmen, doch der Kleine riss sich los und wimmerte: »ER war’s! Er war böse, weil ich ihm das Geschenk zurückgebracht habe.«
Dorothea brauchte einen Augenblick, bis sie verstand. Und selbst dann konnte sie es nicht fassen. »Richter Förg? Er hat dich so zugerichtet?«,
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