Heike Eva Schmidt
Schnell schnappte ich mir eine der Kerzen und leuchtete damit in die rechteckige Öffnung. Weit hinten glaubte ich, etwas schimmern zu sehen. Ich überlegte kurz, die ganze Sache einfach zu vergessen, denn mir widerstrebte es entschieden, meine Hand in das finstere Loch zu stecken. Konnte ich wissen, was dort lauerte? Am Ende würde mir eine dicke, schwarze Spinne den Arm hinaufkrabbeln oder eine Ratte sich bemüßigt fühlen, ihre Ruhe mit einem energischen Biss ihrer scharfen Nagezähne zu verteidigen. In diesem Moment zitterte die Kerzenflamme leicht, und ich erspähte einen hellen, länglichen Gegenstand am hinteren Ende der Mauer.
»Jetzt reiß dich zusammen und sei kein Feigling«, ermahnte ich mich selbst energisch. Dabei wuchsen mir die Hasenfüße wahrscheinlich gerade bis auf Schuhgröße 54. Ich konnte sehen, wie meine Finger zitterten, als ich sie vorsichtig in die dunkle Öffnung schob.
Innen drin war es so kalt, als würde ich in ein Gefrierfach fassen. Immerhin spürte ich sonst nichts: keinen Biss, kein Krabbeln. Meine Finger tasteten sich über den rauen Untergrund nach vorne, als sie unvermittelt auf etwas Glattes, Hartes stießen. Ich zuckte zurück, doch als nichts passierte, griff ich zu und zog das Ding vorsichtig aus der Öffnung. Im flackernden Schein der Kerzenflammen betrachtete ich das längliche Bündel. Es hatte kaum Gewicht und sah aus, als handle es sich um ein zusammengewickeltes Tuch, das man in Wachs getaucht hatte, um es gegen Nässe und vielleicht auch den Verfall zu schützen.
Ich zögerte einen Moment, doch dann dachte ich: Was soll’s. Warum nicht an Ort und Stelle nachsehen, was ich da gefunden habe?
Vorsichtig ritzte ich das brüchige Wachs mit dem Fingernagel an. Kleine, harte Plättchen lösten sich von dem Stoff. Ich machte so lange weiter, bis ich das Päckchen auseinanderfalten konnte. In dem Tuch befand sich ein Stück Leder. Es hatte eine unregelmäßige Form, und die Ecken waren ausgefranst, als hätte es jemand hastig mit einem stumpfen Messer ausgeschnitten. Auf der weichen, braunen Oberfläche erkannte ich zittrige Buchstaben. Sie sahen nicht aus wie mit Tinte oder Ähnlichem geschrieben, sondern wirkten wie eingegraben. Vorsichtig fuhr ich mit dem Finger darüber und spürte eine Unregelmäßigkeit in der Struktur. Es dauerte eine Sekunde, bis mir aufging: Die Buchstaben waren in das Leder eingebrannt worden, vielleicht mit einem verkohlten Holzspan. Meine Nasenspitze berührte fast das Schriftstück, so nah musste ich herangehen, um die Buchstaben entziffern zu können. Die Sprache klang merkwürdig gestelzt.
Erbarm dich mein o herre got
nach deyner grosn barmhertzigkeyt.
sich herr ynn sund byn ich geborn
ynn sund enpfyng mich mein mutter.
Der Rest war nicht mehr lesbar. Am unteren linken Rand konnte ich mit Müh und Not zwei Buchstaben entziffern: G. H.
Verwirrt hielt ich das Schriftstück in der Hand. Wann es wohl geschrieben worden war? Und von wem? Vielleicht von einem Gefangenen? Ein letzter Schrei in die Welt dort draußen, ehe sich die Verliestür für immer hinter ihm oder ihr geschlossen hatte?
In meinem Magen machte sich ein mulmiges Gefühl breit. Ich beschloss, meinen Fund mitzunehmen und meinem Vater zu zeigen. Der stand auf Archäologie, Ahnenforschung und so Kram. Vielleicht hatte er eine Ahnung, aus welchem Jahrhundert das lederne Stück stammte.
Als ich schließlich nach dem Wachstuch griff, glitt etwas heraus, das ich vorher übersehen haben musste, und fiel mit einem zarten Klingen auf den Boden.
Ich bückte mich und hielt zu meiner Überraschung einen schmalen Halsreif in der Hand. Er musste ziemlich alt sein, denn er war schwarz angelaufen. In meiner Hosentasche fand ich ein fusseliges Taschentuch, mit dem ich vorsichtig über das Metall rieb. Allmählich schimmerte ein warmer Braunton unter dem schwarzfleckigen Belag. Ich polierte eifrig weiter, und nach wenigen Minuten glänzte der Halsreif in einem sanften Rotgold. Bewundernd betrachtete ich das Schmuckstück. Der Reif hatte einen einfachen Verschluss und war schlicht gearbeitet, aber trotzdem wunderschön.
Die Versuchung war zu groß: Ich legte ihn mir um den Hals. Glatt und kühl schmiegte sich das Kupfer an meine warme Haut, knapp über dem Schlüsselbein. Er passte, als sei er von einem Goldschmied eigens für mich angefertigt worden. Schade, dass ich hier unten keinen Spiegel hatte. Ob er wohl der Person gehört hatte, die das Gedicht geschrieben hatte?
Meine Augen
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