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Heike Eva Schmidt

Heike Eva Schmidt

Titel: Heike Eva Schmidt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Purpurmond
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wanderten über das Leder. Seltsam, statt dem Buchstaben i ein y zu schreiben! Wie man das wohl aussprach? Halblaut begann ich, die Verszeilen zu rezitieren:
    Erbarm dich mein o herre got
    nach deyner grosn barmhertzigkeyt.
    sich herr ynn sund byn ich geborn
    ynn sund enpfyng mich mein mutter.
    Ich hatte das letzte Wort noch nicht zu Ende gesprochen, da wurde mir plötzlich schwindelig. Grelle Funken explodierten vor meinen Augen. Ich wollte mich an der Wand abstützen, doch meine Hand tastete ins Leere. Die Wände waren verschwunden, und ich vernahm ein Rauschen wie bei einem Sturmwind. Die Welt begann, sich um mich herum zu drehen, als triebe ich im Meer und würde von einem starken Strudel erfasst. Schneller und schneller ging es, während hinter meinen krampfhaft zusammengekniffenen Augen purpurne Schlieren tanzten, die zu Kreiseln wurden. Ich spürte, wie ich fiel. Tiefer und tiefer wurde ich hinabgezogen, bis ich das Bewusstsein verlor …
     
    Stimmengewirr und das Wiehern eines Pferdes weckten mich. Verwundert dachte ich darüber nach, wie bitte schön ein Pferd ins Drudenhaus gelangt war. Doch als ich die Augen öffnete, war der Keller verschwunden. Stattdessen saß ich auf einem Kopfsteinpflaster, mit dem Rücken gegen eine Hauswand gelehnt. Es musste helllichter Tag sein, denn die Sonne schien mir grell ins Gesicht. Verwirrt und immer noch etwas taumelig rappelte ich mich hoch.
    »Ist sie wohlauf?«, ertönte eine Stimme neben mir. War Sina zurückgekommen und hatte mich aus meinem Gefängnis befreit? Als ich meinen Kopf umwandte, der sich bei dieser Bewegung mit einem Anflug von Schmerzen rächte, als hätte ich einen fiesen Kater, erblickte ich eine merkwürdig gekleidete Frau neben mir. Sie trug ein hochgeschlossenes, miederartiges Oberteil, das an den Oberarmen zu Puffärmeln gerafft war. Über ihren fast bodenlangen Rock hatte sie eine helle Schürze drapiert. Auf ihrem Kopf saß eine einfache, weiße Haube. Sie sah aus, als würde sie bei einem mittelalterlichen Festspektakel mitspielen.
    »Ob sie wohlauf sei?«, wiederholte die seltsame Frau und musterte mich eindringlich.
    Ich sah mich um, wen sie meinen könnte, weil sie immer in der dritten Person sprach, doch außer uns war in der schmalen Gasse niemand zu sehen.
    »Wer soll wohlauf sein?«, fragte ich verwirrt zurück.
    Die Frau sah mich noch einmal befremdet an, ehe sie sich abwandte und um eine Hausecke verschwand.
    Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Die Quittung war eine erneute Schmerzwelle, und mir wurde übel. Vorsichtshalber setzte ich mich wieder hin. Dabei fiel mein Blick auf meine ausgestreckten Beine, und ich zuckte zusammen: Meine neuen Chucks, für die ich vergangenen Monat mein ganzes Taschengeld restlos verpulvert hatte, sahen aus, als hätte ich eine Expedition zum Basislager des Mount Everest unternommen und anschließend noch die Wüste Gobi durchwandert: Ihre knallblaue Farbe war zu einem fahlen Grau verblasst, der Stoff war rissig, und die Schnürsenkel hingen in Fetzen an den Seiten herunter.
    »Scheiße, was ist das denn?«, rutschte es mir raus, aber weil niemand da war, der meine Frage hätte beantworten können, ließ ich meinen Blick weiterwandern – und hätte fast erneut geflucht: Meine 7/8 Cargohose, ein Markenmodell, das ich mir extra zum Geburtstag gewünscht hatte, war völlig ausgeblichen. Eine Handbreit unter meinem Knie schlotterte ein ausgefranster Saum, und außerdem waren Löcher in der Hose. Keine Ahnung, wie die dorthin gekommen waren. Dafür hatte mein ehemals schneeweißes Kapuzenshirt nun die aparte Farbe einer vollgepinkelten Windel: irgendwas zwischen hellem Beige und blassem Gelb. Im Prinzip konnte ich die Klamotten allesamt in einen Müllsack packen und wegwerfen. Nur sah ich in der ganzen Umgebung keinen einzigen Papierkorb. Dafür roch es, als habe die Müllabfuhr ihren Job wochenlang nicht erledigt.
    Überfordert steckte ich den Kopf zwischen die Knie und atmete dreimal tief ein und aus. Vielleicht träumte ich das ja alles nur. Es konnte gar nicht anders sein, denn wie sonst wäre ich aus dem Keller des Drudenhauses in diese Gasse gekommen? Mit völlig zerschlissenen Kleidern?
    Noch ein tiefer Atemzug, dann würde ich aufwachen. Doch im nächsten Moment stach mir wieder dieser Geruch in die Nase, den ich bereits vorher wahrgenommen hatte. Er erinnerte mich an verstopfte Toiletten auf dem Campingplatz oder überlaufende Gullys an einem heißen Sommertag. Ich wollte lieber nicht darüber

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