Heike Eva Schmidt
vergewisserte sie sich.
Der Junge nickte und schniefte, ehe er sich energisch mit dem Ärmel seines Hemdes, das er schon bei seinem Besuch in Dorotheas Haus getragen hatte, die Nase abwischte.
Ihr wurde übel. Schuldgefühle prasselten auf sie herab wie ein Regenguss aus einem pechschwarzen Gewitterhimmel. Und dann kam der Zorn auf diesen alten, hässlichen Mann mit seinen Spinnenfingern, der einen unschuldigen kleinen Jungen schlug, nur weil er sich in seinem Stolz gekränkt fühlte.
Dorothea wollte dem Kleinen sagen, dass es ihr leidtat, doch als sie die Hand nach ihm ausstreckte, wich der Junge zurück.
»Du bist schuld! Du … du Hexe!«, rief er. Damit wirbelte er herum. Seine nackten Fußsohlen klatschten auf das Pflaster, als er hastig davonrannte.
Bei diesen Worten war Dorothea unwillkürlich zusammengezuckt. Furchtsam blickte sie sich um, ob jemand gehört hatte, wie der Kleine sie genannt hatte. In diesen Zeiten war es gefährlich, als Hexe zu gelten. Besonders eine Frau, die die Heilkunst beherrschte, geriet schnell in Verruf. Und Dorothea wusste, wo das Ganze enden konnte: im Drudenhaus zu Bamberg, einem Verlies, dessen vergittertes Eisentor sich für die meisten Angeklagten nur noch einmal öffnete. Nämlich dann, wenn sie zur Hinrichtung auf den Scheiterhaufen geführt wurden. Alle Anklageschriften wurden vom Weihbischof, Johann Georg II., genannt »Fuchs von Dornheim«, abgezeichnet. An der Hinrichtungsstätte wurde die Anklage dann verlesen und im Anschluss der Befehl gegeben, den Holzstoß zu entzünden. Und nur ein Mann konnte diesen Befehl geben: der oberste Richter, Friedrich Förg. Dorothea schauderte, als sie an seine eisigen Augen dachte, in denen kein Gefühl, kein Mitleid war. Sie wusste, dass sie sich vor dem Richter in Acht nehmen musste. Denn in seinen feinen Kleidern aus Samt und teurer Spitze steckte in Wahrheit ein gnadenloses Raubtier.
Kapitel 3
I ch betrachtete meine blutende Handfläche. Beim Versuch, die Tür des Drudenkellers aufzustemmen, war ich abgerutscht und hatte mir an dem rauen gesplitterten Holz die Haut aufgerissen. Das würde Sina mir büßen. Wenn sie mich überhaupt je wieder hier rausließ. Bisher war keins von den Mädchen, die mich hier alleine gelassen hatten, zurückgekommen, um mich zu befreien. Und Mitternacht rückte immer näher. Ich verfluchte meine Nachlässigkeit, wegen der mein Handy jetzt gemütlich zu Hause auf meinem Bett lag. Im Gegensatz zu mir. Ich schmorte hier in meinem Verlies, ohne jede Chance, irgendjemanden über meine missliche Lage zu informieren. Aber wahrscheinlich hätte ich innerhalb dieser dicken, feuchten Mauern sowieso keinen Empfang gehabt. Mein Blick blieb an dem schmalen Kellerfenster etwa einen Meter über meinem Kopf hängen. Ein riesiger, fast blutroter Halbmond stand am Himmel. Offenbar hatte er sich in der vergangenen halben Stunde durch die Wolken gekämpft, und nun fiel sein kaltes Licht durch die geborstene Scheibe. Ich schätzte die Höhe des Fensters ab. Wenn ich zwei oder drei der leeren Kisten, auf denen wir vorhin bei der »Party« gehockt hatten, aufeinanderstapelte, gab es vielleicht eine Möglichkeit, mich aus der schmalen Luke nach draußen zu zwängen. Doch dazu hätte ich zuerst die Fensterscheibe entfernen müssen, die sowieso schon fast herausgebrochen war. Prüfend musterte ich die Überreste der spitzen Glaszacken, die wie die Zähne eines Haifischs aus dem vermoderten Rahmen herausragten. Ich brauchte etwas, um sie abzuschlagen, sonst würde ich mich an den Scherben ernsthaft verletzen.
Suchend durchstreifte ich den Kellerraum, als mein Blick auf eine Stelle in der Mauer fiel, in der die Fugen breiter schienen. Widerwillig berührte ich die Steine. Sie fühlten sich eiskalt und glitschig-feucht an, und ich konnte den Impuls, meine Hand zurückzuziehen, nur mühsam unterdrücken. Einer der Steine wackelte leicht. Ächzend zwängte ich Zeige-und Mittelfinger meiner rechten Hand in den Spalt und zog. Tatsächlich gelang es mir, den lockeren Backstein Stück für Stück aus der Mauer zu lösen. Zwar brach er dabei auseinander, aber eine der Hälften war immer noch stark genug, um die Reste des Glases aus dem Fenster zu entfernen.
Ich wollte mich schon abwenden, als ich einen leichten Windzug spürte, fein wie der Hauch eines Geisteratems. Er kam aus dem Loch in der Mauer.
Gebückt spähte ich in den kleinen Hohlraum und versuchte mit zusammengekniffenen Augen, die Schwärze zu durchdringen. Chancenlos.
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