Heike Eva Schmidt
Waldes herauszutreten. Sie verschmolz mit dem Schatten der Bäume, und nichts anderes war sie mehr: ein Schatten ihrer selbst.
Über viele Umwege erklomm Dorothea am späten Nachmittag den Hügel, der zum Mönchskloster führte. Sie hatte lange mit sich gehadert, dann aber keinen anderen Ausweg gesehen: Sie wollte, ja, sie musste Jakob aufsuchen. Helfen konnte er ihr vermutlich nicht, vielleicht hätte er jedoch einen Rat für Dorothea, was sie nun tun sollte.
Als sie vor dem hohen hölzernen Tor stand, verließ sie der Mut. Was würde ihr Bruder schon tun oder sagen können? Nichts. Dorothea war auf sich allein gestellt. Seit Cat in jener Nacht auf dem Klosterfriedhof von einer Sekunde auf die andere verschwunden war – Dorothea nahm an, sie war wieder in ihr eigenes Zeitalter zurückgegangen –, hatte sie niemanden mehr, mit dem sie reden konnte. Während sie noch vor der glatten, abweisenden Klostertüre stand, flog ein kleines Fenster auf. Dorothea erschrak, als der vollkommen haarlose Schädel eines Mönchs in der Öffnung auftauchte. Er verzog sein hageres, vor Entbehrungen und Missmut hässlich gewordenes Gesicht zu einer noch verhärmteren Grimasse und fauchte: »Evastochter! Was will sie hier? Dies ist ein geweihter Ort der Einkehr und des Gebets für unsere Brüder!«
Dorothea wich zurück, wobei die Kapuze ihres wollenen Umhangs von ihrem Kopf rutschte. »Ihr müsst mir helfen, bitte … ich …«
Ihr versagte die Stimme, als sie die Augen des Mönchs sah, der ihr ins Gesicht starrte, ehe sein Blick an ihren langen, rotgoldenen Haaren hängenblieb. Während sich seine klauenartigen Altmännerhände um den Griff des Pfortenfensters krallten, kippte seine Stimme.
»Fort, fort mit dir, Metze! Ihr Weiber tragt Schuld an der Erbsünde, also scher dich zur Hölle«, kreischte er, und kleine Speicheltropfen sprühten aus seinem Mund.
Sprachlos vor Entsetzen über seinen grundlosen Hass, stand Dorothea ein paar Sekunden reglos da. Sie fühlte sich gedemütigt und beschmutzt, als hätte der Mönch ihr mit Absicht eine Handvoll Unrat ins Gesicht geschleudert. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie spürte, wie ihre Wangen vor Scham anfingen zu brennen. In diesem Augenblick fiel ihr ein, wie mutig sich Cat zwischen Förg und sie gestellt hatte. Und sie erinnerte sich an ihre Schilderungen, dass Frauen in der Zukunft fast so viel zählten wie Männer. Dorothea hob den Kopf und blickte dem kahlen Mönch direkt in die Augen. Ruhig sagte sie: »Der Hass gegen alles Weibliche zehrt an Euch. Ihr tut mir leid, denn Ihr brennt längst in Eurer eigenen Hölle!« Damit wandte sie sich ab und schritt davon, das fassungslose Schweigen des Klosterbruders im Rücken.
Erst als ihr heftiges Herzklopfen nachließ und die Vernunft die Oberhand über ihren Zorn gewann, wurde Dorothea klar, dass sie die Gelegenheit, Jakob zu sehen, endgültig verspielt hatte. Und noch schlimmer: Sollte Förg sie suchen und auf den Gedanken verfallen, im Mönchskloster zu fragen, ob die rothaarige Flockin bei ihrem Bruder vorstellig geworden war, würde sich der alte Pförtner mit absoluter Gewissheit an sie erinnern. Und dann drohte vielleicht auch Jakob Gefahr, obwohl er sie seit Wochen nicht gesehen hatte. Dorothea machte sich wegen ihrer Unbeherrschtheit schwere Vorwürfe, während sie ziellos durch den Wald irrte. Erst als die Amseln ihren allabendlichen Gesang anstimmten, ehe ihre Stimmen für diesen Tag verstummten, kam ihr der rettende Einfall: Hatte Cat ihr nicht gesagt, sie müsse nur noch ein paar Wochen ausharren, ehe alles gut würde? Dorothea wusste, dass Förg bis dahin keine Ruhe geben würde. Also musste sie ihn in dem Glauben lassen, sie sei fort. Nicht auf der Flucht, denn Förg war ein Waidmann. Nein, er sollte annehmen, Dorothea sei etwas zugestoßen. Bei dem Gedanken, was sie dafür tun musste, schossen ihr Tränen in die Augen. Sie versuchte, ihr kummervolles Schluchzen zu unterdrücken, und biss sich so hart auf die Fingerknöchel, bis sie zu bluten begannen. Ihr Herz fühlte sich an wie ein Pergament, das im Feuer zu einem schwärzlichen Klumpen geschrumpft war. Aber es musste sein.
Als die Glocken des Bamberger Doms schwer und klangvoll die mitternächtliche Stunde verkündeten, begab sich Dorothea aus dem Schutz der Wälder und ging den vertrauten Weg heim. Lange betrachtete sie die windschiefe Kate, die seit ihrer Geburt ihr Zuhause gewesen war. Ein leichter, lauer Mairegen hatte eingesetzt, und die feinen
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