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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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wochenlang vorbereitet hat. Das hätte auch was mit Selbstachtung zu tun.
    Zu Beginn streifte er die Geschichte des Aufsatzunterrichts, daß er sich aus dem Schönschreiben entwickelt hat, sagte er. Deshalb halte er dafür, daß für Aufsätze besondere Hefte unabdingbar sind, vielleicht grün eingeschlagen, das Rot müsse der Hohen Schule der Nachschriften vorbehalten bleiben, und Blau gelte für Kladden jeder Art.
    Nach diesem Prinzip müßten sich natürlich auch die Korrekturen richten, also: grüne Hefte – grüne Tinte, rote Hefte – rote Tinte, blaue Hefte – blaue Tinte und so weiter und so fort…

    Der Kreis der Lehrer hörte ihm aufmerksam zu, ja, Ordnung muß sein, da stimmten sie ihm zu. Die Frage war, ob es nicht auch verschiedenfarbige Löschblätter gäb’? Da mal nachhaken irgendwie.

    So, nun aber geschwind zum Aufsatz selber kommen. Die folgenden Gattungen von Aufsätzen müsse man unterscheiden: Nacherzählung, Besinnungsaufsatz, Erörterung, Erlebnisaufsatz, Bericht und so weiter und so fort… Eines gelte jedoch für alle: Am Anfang jeder schriftlichen Äußerung stehe das Sprechen, Schüler, die im mündlichen Ausdruck mangelhaft sind, würden auch nicht imstande sein, einen Gedanken oder ein Erlebnis oder wie auch immer, was auch immer schriftlich niederzulegen oder abzufassen oder auszudrücken. Deshalb müsse zunächst der mündliche Ausdruck geschult werden, und das laufe am besten folgendermaßen ab: Um das Sprechen zu provozieren, müsse es zu einer intensiven Sachbegegnung kommen. Wenn das Thema also laute:«Wie zünde ich eine Kerze an?», dann stelle er zu Beginn der Aufsatzstunde einen Leuchter auf das Pult, aus Zinn oder aus Holz oder Porzellan oder was auch immer, und nachdem er also den Leuchter deutlich sichtbar aufs Pult gestellt hätte, vergewissere er sich, daß alle Kinder wissen, was das ist, ein Leuchter, weil es nämlich nicht so selbstverständlich ist, daß alle wissen, was ein Leuchter ist, ein bis zwei Prozent aller Kinder wären zweifelsohne in jeder Klasse zu finden, die keine Ahnung haben davon, was das ist, ein Leuchter, die drehten das elektrische Licht an, fertig ist die Laube… So gäbe es in Middelum – zehn Kilometer von der Nordsee entfernt – Kinder, die noch nie das Meer gesehen haben!
    Dem konnte zugestimmt werden, die Lehrer stießen einander an: Ja ja! O Gott! Der Mann hat recht!

    Also zuerst und vor allem die Sachbegegnung: Den Leuchter stelle er für alle und jeden gut sichtbar auf den Tisch, und die Kerze habe er in einem Beutel stecken oder in einer Tasche oder einem Rucksack, aber besser Beutel, und dann lasse er raten, was er in dem Beutel oder der Tasche, je nachdem, stecken hat, was er nun wohl herausholt aus dem Beutel? – Kunstpause einlegen und den Schülern Zeit geben zum Nachdenken… Wenn sie dann«Lebkuchen»oder«Schlüssel»sagen oder ähnliches mehr, dann lasse er das zunächst auf sich beruhen, halte ihnen den Beutel hin – zu diesem Zweck leihe er sich gern die Einkaufstasche seiner Frau, die von Segeltuch gemacht sei, oder er schnurre beim Kaufmann einen kleinen Zwiebelsack; vor Papiertüten warne er, weil da was Irreführendes draufsteht – und lasse die Kinder sodann ertasten, haptisch erleben also, was er in dem Sack zu stecken abgepackt hat.
    Wenn sie fehlgehen in ihrem Vermuten, vielleicht«Gurke»sagen oder«Kleiderbügel», dann genüge ein kurzer bedeutsamer Blick auf den noch leeren Leuchter, um sie zur richtigen Antwort zu bringen. Das wär immer ein kitzliger Augenblick! Doch immer mit der Ruhe! Schließlich rufe eben doch einer, und zwar mit leuchtenden Augen:«Kerze!»
    Allgemeines Nicken der Lehrer! Auch dem war zuzustimmen, man selbst hatte dergleichen schon erlebt.
    Dann die Kerze rausbringen aus dem Zwiebelsack oder der Einkaufstasche oder was auch immer und fragend über den Leuchter halten.«Reinstecken! Reinstecken!»riefen die Kinder dann meistens schon nach kurzer Zeit. Reinstecken, ja, das dürfe sodann ein älterer Schüler männlichen Geschlechts besorgen, was die meistens auch sehr gerne täten.
    Das Anzünden der Kerze – das Zentrum des Einleitungshauptteils -, besorge er lieber selbst. Zunächst darauf achten, daß kein Papier in der Nähe liegt, das eventuell in Brand geraten könnte, dann den Docht auf neunzig Grad zur Seite biegen, damit die Flamme, die man entweder per Zündholz oder Feuerzeug erregt, den Docht im nötigen Winkel rasch erreiche. Der Spannungsbogen der Darbietung dürfe

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