Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
Männer wackelten nach links und rechts, und am Kriegerdenkmal wurde haltgemacht. Aufhören mit Singen. Der Sarg wurde herausgezogen, die letzte Strecke mußte er getragen werden – das Tor zum Friedhof stand schon offen.

    Der Bauer Up de Hœcht war auf den Dachboden gestiegen – immer diese Schmerzen! -, er sah aus dem runden Giebelfenster dem Zug nach. Er dachte an Rußland: die lange Reihe der Birkenkreuze. Anfangs hatte man noch Ehrensalut geschossen über die Gräber hinweg, später war das dann unterblieben.

    Der Zug geriet etwas durcheinander, am Grab wurde aber die Ordnung wiederhergestellt. Carla mit ihren Kusinen und Tanten und mit ihrem Freund, Matthias mit den Kindern, und der Posaunenchor mit Schneidermeister Wustig, dem der kleine Finger der rechten Hand fehlte.
    Man trat näher heran, ja drängte vor, denn nun mußte aufgepaßt werden, ob alles seine Richtigkeit hat. Totengräber Jakobs, ein Beibauer der Waldsiedlung, hatte alles vorbereitet: Die Kränze legte er auf den Aushub. Über der Grube lagen vier Bretter, darauf wurde der Sarg gestellt. Und alles Fleisch vergeht wie Gras. Matthias wunderte sich darüber, daß die Grube so sauber ausgehoben war, die gelben Seitenwände absolut glatt, das waren gewiß zwei Kubikmeter, wenn nicht mehr… Irgendwie hatte Matthias sich eine Art Kuhle vorgestellt. Eine ziemliche Arbeit. Das mochte Jakobs einen vollen Tag gekostet haben.

    Als sich endlich auch die Nachzügler eingefunden hatten – auch die alte Jule, die sich an zwei Stöcken am Schluß des Zuges dahinschleppte; von ihr wurde gesagt, sie würde wohl die nächste sein -, als jeder hübsch auf Lücke stand, damit ihm auch nichts entgeht, blies der Posaunenchor einen Choral, und der Schützenmajor trat vor und sprach ein paar Worte über die Große Armee, und er hoffe… er hoffe… ja, was hoffte er? Daß der alte Freede in den Himmel kommt? Das wohl nicht. Daß man sich wiedersähe, drüben? Das wohl auch nicht… Es blieb unausgesprochen, was er hoffte, jeder dachte sich sein Teil.
    Vielleicht war es ein Zufall, daß der Kiesbauer – von allen geächtet, Kameradendiebstahl ist schließlich kein Kavaliersdelikt – sich im hinteren Teil des Friedhofs zu schaffen machte, zu dieser Stunde. Der hatte dort seine Grabstelle mit einem übergroßen schwarzen Stein aus poliertem Granit. Teuer war der Stein gewesen, aber Geld hatte er ja, der Kiesbauer, Tag um Tag kamen Lastwagen und holten bei ihm Sand.

    Dann segnete der Pastor die Leiche ein letztes Mal: Die Zylinderhüte wurden abgenommen und die Taschentücher hervorgeholt, denn nun galt es, das Lied aller Lieder zu singen, worauf man schon wartete:
    Wenn ich einmal soll scheiden,
dann scheide nicht von mir…
    Und unter diesem Lied wurde der Sarg an den Stricken hinabgelassen in die Grube, und die Frauen schluchzten auf, so laut sie auch sangen, und die Männer zogen das Wasser hoch. Sie dachten wohl nicht so sehr an Bauer Freede, und nicht ans eigene Scheiden, das kam eher davon, daß sie dieses Lied schon so oft gesungen hatten, und immer war geweint worden, weil es schon so oft gesungen worden war.
    So lag der alte Freede denn nun neben seiner Frau, die vor fünfzehn Jahren am Lungenbluten gestorben war. Eine lebenslustige Frau war sie gewesen, das wußten die Leute noch, eine Frau, die gern tanzte, und Freede hatte dann immer an der Theke gesessen und ihr zugesehen: aus einem Arm in den nächsten mit ihrem blonden Haar.

    Im Trauerhaus war bereits ausgefegt worden, ein alter Brauch, mit dem Reisigbesen rückwärts schreitend, damit der Tote nicht zurückkehrt. Es wurden Tische gerückt, Streuselkuchen wurde aufgefahren und Kaffee in großen Kannen, und bald saß alles auf der Diele und redete laut und immer lauter durcheinander. Witze wurden gemacht, und das gegenseitige Frozzeln ging los. Das war der Leichenschmaus, ein alter Brauch, der den Übergang ermöglichte zur Diesseitigkeit. Hier wurde nun bekakelt, wer den Hof kriegt, und ob der junge Mann mit der schiefen Nase, der da vorn neben Carla sitzt, das hinkriegt, und was für neue Moden er einführt.

    Der Eleve guckte forsch in die Gegend: Das deichseln wir schon. Eine gute Ausgangsposition hatte er, weil ja nun das Altenteil für Bauer Freede fortfiel. Dies und das würde anders gemacht werden müssen, auf der Landwirtschaftsschule hatte er schließlich nicht geschlafen. Und Carla wußte, daß sie nun endlich an ein richtiges Bett kommen würde. Sie hatte schon die Fotos abgenommen, die

Weitere Kostenlose Bücher